Tagebuch Eines Vampirs 05. Rückkehr Bei Nacht
eine Spur hinterlassen hatte.
Sie war geradeaus gegangen und geradeaus zu diesem Baum zurückgekehrt.
»Neiiiiiiiiiin!«
Es war das erste laute Geräusch, seit sie nach den Dunstans gerufen hatte. All diesen Schmerz hatte sie schweigend ertragen, mit kleinen Ächzern oder scharfen Atemzügen, aber sie hatte niemals geflucht oder geschrien. Jetzt wollte sie beides tun.
Vielleicht war es doch nicht derselbe Baum ...
Neiiiiiiin, neiiiiiiin, neiiiiiiiiiin!
Vielleicht würde ihre Macht zurückkommen und sie würde sehen, dass sie nur halluziniert hatte ...
Nein, nein, nein, nein, nein, nein!
Es war einfach nicht möglich ...
Neiiiiiiin!
Ihre Krücke rutschte ihr unterm Arm weg. Sie hatte sich so tief in ihre Achselhöhle gegraben, dass der Schmerz dort den anderen Schmerzen gleichkam.
Alles tat weh. Aber am schlimmsten litt ihr Geist. In ihrem Kopf formte sich das Bild einer Kugel, ähnlich den Weihnachtsschneekugeln, die man schüttelte, damit Schnee oder Glitter durch eine Flüssigkeit schwebte. Aber in dieser Kugel waren überall Bäume. Von oben bis unten, von einer Seite zur anderen, alles Bäume und alle zeigten auf die Mitte. Und sie selbst wanderte in dieser Kugel einsam umher ...
Ganz gleich, wohin sie ging, sie würde weitere Bäume finden, denn das war alles, was es in dieser Welt gab, in die sie hineingestolpert war.
Es war wie ein Albtraum, aber so etwas wie dies konnte andererseits nur real sein.
Auch die Bäume waren intelligent, begriff sie, die kleinen, kriechenden Ranken, die Vegetation. Selbst jetzt zogen die Pflanzen ihr die Krücke weg. Die Krücke bewegte sich, als reichten sehr kleine Leute sie von Hand zu Hand weiter. Elena streckte die Hand aus und bekam das Ende der Krücke gerade noch zu fassen.
Sie erinnerte sich nicht daran, zu Boden gefallen zu sein, aber hier lag sie nun.
Und sie nahm einen Geruch wahr, einen süßen, erdigen, harzigen Duft. Und hier waren auch Kriechpflanzen, die sie testeten, sie ausprobierten. Mit zarten kleinen Berührungen wanden sie sich in ihr Haar, sodass sie den Kopf nicht mehr anheben konnte. Dann spürte sie, wie sie von ihrem Körper kosteten, von ihrer Schulter, ihrem blutigen Knie. Nichts davon war mehr von Bedeutung.
Sie presste die Augen fest zusammen und ein Schluchzen ließ ihren Körper erbeben. Die Kriechpflanzen zogen jetzt an ihrem verletzten Bein und instinktiv zuckte sie zurück.
Für einen Moment weckte der Schmerz sie und sie dachte: Ich muss Matt holen, aber im nächsten Moment verschwamm auch dieser Gedanke. Der süße, harzige Geruch blieb. Die Kriechpflanzen ertasteten sich ihren Weg über Elenas Brust, über ihren Busen. Sie umkreisten ihren Magen.
Und dann begannen sie sich zusammenzuziehen.
Als Elena die Gefahr begriff, behinderten die Pflanzen bereits ihre Atmung. Sie konnte die Brust nicht mehr dehnen. Wenn sie den Atem ausstieß, zogen die Kriechpflanzen sich nur aufs Neue zusammen, arbeiteten Hand in Hand: All die kleinen Ranken waren wie eine einzige riesige Anakonda.
Sie konnte sie nicht abreißen. Sie waren zäh und elastisch und sie konnte sie mit den Nägeln nicht durchtrennen. Es gelang ihr, die Finger unter einige der Ranken zu schieben, und sie zog so fest sie konnte, kratzte mit den Nägeln darüber und drehte. Endlich löste sich eine Faser, mit dem Geräusch einer reißenden Harfensehne und einem wilden Peitschen in der Luft.
Die restlichen Kriechpflanzen zogen sich noch fester zusammen.
Sie musste jetzt kämpfen, um Luft zu bekommen, kämpfen, um die Brust nicht einzuziehen. Kriechpflanzen berührten sachte ihre Lippen, glitten wie dünne Kobras über ihr Gesicht und schlugen dann plötzlich zu, um sich um ihren Kopf zu winden.
Ich werde sterben.
Sie verspürte ein tiefes Bedauern. Man hatte ihr die Chance auf ein zweites Leben gegeben - ein drittes, wenn man ihr Leben als Vampir mitzählte - und sie hatte nichts damit angefangen. Nichts. Sie war immer nur auf der Suche nach ihrem eigenen Vergnügen gewesen. Und jetzt war Fell's Church in Gefahr, ebenso wie Matt, und sie würde ihnen nicht nur nicht beistehen, sie würde aufgeben und genau hier sterben.
Was war jetzt das Richtige? Der Rückzug auf eine spirituelle Ebene? Sollte sie jetzt mit dem Bösen zusammenarbeiten und hoffen, dass sie später die Chance haben würde, es zu zerstören? Vielleicht. Vielleicht brauchte sie nur um Hilfe zu bitten.
Durch den Mangel an Atemluft war sie benommen. Sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass Damon
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