Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
werde Caroline nicht beschimpfen, was auch immer sie tut, schwor Bonnie sich im Stillen. Was auch immer sie tut. Selbst… ja, selbst nach dem, was sie Matt angetan hat. Ich werde versuchen, mich an eine gute Eigenschaft von ihr zu erinnern.
Aber es war schwierig, in diesem Haus überhaupt zu denken, geschweige denn, etwas Gutes. Bonnie wusste, dass die Treppe nach oben führte; sie sah die Stufen vor sich. Aber all ihre Sinne sagten ihr, dass sie nach unten ging. Es war ein grässliches Gefühl, und ihr wurde schwindlig davon: diese scharfe Abwärtsneigung, während sie beobachtete, wie ihre Füße hinaufstiegen. Außerdem lag ein seltsamer Geruch im Treppenhaus, durchdringend wie von verfaulten Eiern. Es war ein widerwärtiger Verwesungsgestank, den man in der Luft geradezu schmeckte.
Carolines Tür war geschlossen und davor stand ein Teller mit Essen sowie einer Gabel und einem Tranchiermesser. Mrs Forbes eilte Bonnie und Meredith voraus und riss hastig den Teller vom Boden, dann öffnete sie die Tür gegenüber von Carolines Zimmer, stellte den Teller dort ab und schloss die Tür wieder.
Aber kurz bevor der Teller nicht mehr zu sehen war, glaubte Bonnie, eine Bewegung in dem Berg von Essen auf dem feinen Porzellan wahrgenommen zu haben.
» Sie spricht kaum mit mir«, bemerkte Mrs Forbes mit der gleichen leeren Stimme, mit der sie zuvor gesprochen hatte. » Aber sie hat gesagt, dass sie euch erwartet.«
Hastig ließ sie die beiden allein im Flur stehen. Der Gestank nach verfaulten Eiern– nein, nach Schwefelwasserstoff, begriff Bonnie–, war sehr stark.
Schwefel– sie erkannte den Geruch vom Chemiekurs im vergangenen Jahr. Aber wie war ein so grässlicher Geruch in Mrs Forbes’ elegantes Haus gekommen? Bonnie drehte sich zu Meredith um, um sie zu fragen, aber Meredith schüttelte bereits den Kopf. Bonnie kannte diesen Gesichtsausdruck.
Sag gar nichts.
Bonnie schluckte, wischte sich über die tränenden Augen und beobachtete, wie Meredith den Knauf von Carolines Tür drehte.
Im Raum war es dunkel. Aber aus dem Flur drang genug Licht hinein, um zu erkennen, dass Carolines Vorhänge mit dunklen Tagesdecken verstärkt worden waren, die man darüber angenagelt hatte. Niemand war in oder auf dem Bett.
» Kommt rein! Und macht diese Tür schnell zu!«
Es war Carolines Stimme, Carolines typisch gereizter Tonfall. Eine Woge der Erleichterung schlug über Bonnie zusammen. Die Stimme war kein männlicher Bass, der den Raum erzittern ließ, kein Heulen, sie war einfach nur eine Caroline-in-schlechter-Laune-Stimme.
Sie trat in die Dunkelheit hinein.
Kapitel Fünf
Elena setzte sich auf den Rücksitz des Jaguars und zog sich unter dem Sichtschutz ihres Nachthemds ein aquamarinfarbenes Fleece-Shirt und Jeans an, nur für den Fall, dass ein Polizeibeamter vorbeikam– oder irgendjemand sonst, der versuchte, den Besitzern eines Autos zu helfen, das anscheinend auf einer einsamen Straße liegen geblieben war. Dann legte sie sich auf den Rücksitz.
Aber obwohl sie es jetzt warm und gemütlich hatte, wollte der Schlaf nicht kommen.
Was will ich? Was will ich im Augenblick wirklich?, fragte sie sich. Und die Antwort kam sofort.
Ich will Stefano sehen. Ich will seine Arme um mich spüren. Ich will nur sein Gesicht anschauen– seine grünen Augen mit diesem besonderen Ausdruck, den er niemals jemand anderem als mir zeigt. Ich will, dass er mir verzeiht und mir sagt, dass er weiß, dass ich ihn immer lieben werde. Und ich will… Elena errötete, während ein Gefühl der Wärme durch ihren Körper lief, ich will, dass Stefano mich küsst. Ich will Stefanos Küsse… warm und süß und tröstlich…
Diese Gedanken gingen Elena durch den Kopf, als sie zum zweiten oder dritten Mal die Augen schloss und ihre Position veränderte. Wieder stiegen Tränen in ihr auf. Wenn sie nur um Stefano hätte weinen können, wirklich weinen. Aber irgendetwas hinderte sie daran. Es fiel ihr schwer, sich auch nur eine Träne herauszuquetschen.
Gott, war sie erschöpft…
Elena versuchte es. Sie hielt die Augen geschlossen und drehte sich hin und her, während sie wenigstens für einige Minuten nicht an Stefano denken wollte. Sie musste schlafen. In ihrer Verzweiflung warf sie sich einmal wild herum, um eine bessere Lage zu finden – als sich plötzlich alles veränderte.
Elena hatte es bequem. Zu bequem. Sie konnte den Sitz überhaupt nicht mehr spüren. Sie schnellte hoch und erstarrte, denn sie saß in der Luft. Sie schlug sich
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