Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
beinahe den Kopf am Dach des Jaguars an. Ich habe wieder die Schwerkraft verloren, dachte sie entsetzt. Aber, nein– diesmal war es anders als damals, als sie aus dem Jenseits zurückgekehrt und wie ein Ballon umhergeschwebt war. Sie konnte nicht erklären, warum, aber sie war sich sicher.
Sie hatte Angst, sich in irgendeine Richtung zu bewegen. Sie wusste nicht genau, warum– aber sie wagte keine Bewegung.
Und dann sah sie es.
Sie sah sich selbst mit in den Nacken gelegtem Kopf und geschlossenen Augen auf der Rückbank des Wagens. Sie konnte jedes winzige Detail erkennen, angefangen von den Knitterfalten in ihrem Shirt bis hin zu dem Zopf, den sie aus ihrem hellgoldenen Haar geflochten hatte und der sich in Ermangelung eines Haarbands bereits auflöste. Sie sah aus, als schlafe sie tief und heiter.
So könnte also alles enden. Elena Gilbert stirbt an einem Sommertag friedlich im Schlaf. Eine Todesursache würde nie gefunden…
Abgesehen davon, dass sie offiziell bereits als tot galt, würde niemand ein gebrochenes Herz als Todesursache ansehen, dachte Elena. Und mit einer Geste, die noch melodramatischer war als ihre gewohnten melodramatischen Gesten, versuchte sie, sich mit vors Gesicht gehaltenem Arm in ihren eigenen Körper hinabzustürzen. Aber es funktionierte nicht. Sobald sie zu dem Manöver ansetzte, fand sie sich draußen vor dem Jaguar wieder.
Sie war mitten durch die Decke geschossen, ohne etwas zu spüren. Ich nehme an, das geschieht nun mal, wenn man ein Geist ist, ging es ihr durch den Kopf. Aber dies ist ganz anders als beim letzten Mal. Damals habe ich den Tunnel gesehen, ich bin ins Licht gegangen.
Vielleicht bin ich gar kein Geist.
Plötzlich stieg Jubel in Elena auf. Ich weiß, was das ist, dachte sie triumphierend. Dies ist eine außerkörperliche Erfahrung!
Sie blickte wieder auf ihr schlafendes Ich hinab und hielt gründlich Ausschau. Ja! Ja! Da war eine Schnur, die ihren schlafenden Körper– ihren realen Körper– mit ihrem spirituellen Ich verband. Sie war geerdet! Wohin sie auch immer ging, sie konnte den Weg zurück finden.
Es gab nur zwei mögliche Ziele. Eines war Fell’s Church. Am Stand der Sonne konnte sie die ungefähre Richtung ablesen, und sie war davon überzeugt, dass jemand, der seinen Körper verlassen hatte, in der Lage sein würde, die Kreuzung all dieser Machtlinien zu erkennen.
Das andere Ziel war natürlich Stefano.
Damon mochte denken, dass sie nicht wusste, wo sie hingehen musste, und es stimmte, dass sie der aufgehenden Sonne nur vage entnehmen konnte, dass Stefano sich in einer anderen Richtung befand– westlich von ihr. Aber sie hatte immer gehört, dass die Seelen wahrer Liebender irgendwie verbunden seien… durch einen silbernen Faden von Herz zu Herz oder durch eine rote Schnur von kleinem Finger zu kleinem Finger.
Zu ihrem Entzücken entdeckte sie sie tatsächlich auch sofort.
Eine dünne Schnur von der Farbe des Mondlichts, die sich zwischen dem Herzen der schlafenden Elena und… ja. Als sie die Schnur berührte, sang sie so deutlich zu ihr von Stefano, dass sie wusste, sie würde sie zu ihm bringen.
Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, welches Ziel sie ansteuern würde. Sie war bereits in Fell’s Church gewesen. Bonnie war eine Hellseherin mit beeindruckenden Kräften, und das Gleiche galt für Stefanos alte Vermieterin, Mrs Theophilia Flowers. Sie waren dort, zusammen mit Meredith und ihrem brillanten Verstand, um die Stadt zu beschützen.
Und sie würden es alle verstehen, sagte sie sich ein wenig verzweifelt. Sie würde vielleicht nicht noch einmal eine solche Chance bekommen.
Ohne noch einen Augenblick länger zu zögern, wandte Elena sich in Stefanos Richtung und machte sich auf den Weg.
Sofort stellte sie fest, dass sie durch die Luft schoss, viel zu schnell, als dass sie ihre Umgebung hätte wahrnehmen können. Alles, woran sie vorbeikam, war verschwommen und unterschied sich nur in Farbe und Beschaffenheit, während Elena mit zugeschnürter Kehle begriff, dass sie durch Gegenstände hindurchflog.
Und so schaute sie nur wenige Sekunden später auf eine herzzerreißende Szene hinunter: Stefano auf einer abgenutzten, maroden Pritsche, grau im Gesicht und dünn. Stefano in einer abscheulichen, von Binsen übersäten und von Läusen verseuchten Zelle mit verdammten Gitterstäben aus Eisen, denen kein Vampir entfliehen konnte.
Elena wandte sich einen Moment lang ab, damit er, wenn sie ihn weckte, nicht ihre Qual und ihre Tränen
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