Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
sich während der ganzen Nacht nicht verändert hatte.
Doch dann versammelte sich eine andere Art von Menge vor dem Haus des Arztes. Sie bestand größtenteils aus älteren Männern, die fadenscheinige, aber saubere Gewänder trugen– und es waren sogar einige alte Frauen gekommen. Angeführt wurden sie von einem silberhaarigen Mann, der eine seltsame Würde ausstrahlte.
Damon ging mit Sage als Verstärkung nach draußen und richtete das Wort an sie.
Elena war angezogen, befand sich aber immer noch oben in dem stillen Brautgemach.
Liebes Tagebuch,
oh Gott, ich brauche Hilfe! Oh Stefano – ich brauche Dich. Du musst mir verzeihen. Du musst mir helfen, nicht den Verstand zu verlieren. Zu viel Zeit in Damons Gesellschaft, und ich bin vollkommen emotional, bereit, ihn zu töten oder … oder – ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht!!! Wir sind zusammen wie Zündstein und Zunder – Gott! Wir sind wie Benzin und Flammenwerfer! Bitte, höre mich und hilf mir und rette mich … vor mir selbst. Wann immer er meinen Namen sagt …
» Elena.«
Die Stimme hinter ihr ließ Elena zusammenzucken. Sie schlug das Tagebuch zu und drehte sich um.
» Ja, Damon?«
» Wie fühlst du dich?«
» Oh, großartig. Gut. Selbst mein Bein ist– ich meine, es geht mir rundum gut. Wie fühlst du dich?«
» Nun… einigermaßen«, antwortete er, und er lächelte– und es war ein echtes Lächeln, keine Grimasse, die er auf die letzte Sekunde in etwas anderes verzerrte, oder ein Versuch zu manipulieren. Es war einfach ein Lächeln, wenn auch ein ziemlich besorgtes und trauriges.
Irgendwie bemerkte Elena die Traurigkeit nicht, bis sie sich später daran erinnerte. Sie hatte plötzlich einfach das Gefühl, schwerelos zu sein: dass sie, wenn sie die Kontrolle über sich selbst verlor, meilenweit in die Höhe schweben könnte, bevor irgendjemand sie aufhalten würde– meilenweit fort, vielleicht sogar bis zu den Monden dieser irrsinnigen Welt.
Sie brachte ihrerseits ein zittriges Lächeln zustande. » Das ist gut.«
» Ich bin gekommen, um mit dir zu reden«, begann er, » aber… zuerst…«
Elena wusste nicht, wie ihr geschah, aber einen Moment später lag sie in seinen Armen.
» Damon– wir können so nicht weitermachen…« Sie versuchte, sich sanft von ihm zu lösen. » Wir können das wirklich nicht länger tun, das weißt du.«
Aber Damon ließ sie nicht los. Etwas an der Art, wie er sie in den Armen hielt, machte ihr halb Angst und weckte gleichzeitig in ihr den Wunsch, vor Glück zu weinen. Sie kämpfte die Tränen nieder.
» Es ist alles in Ordnung«, sagte Damon sanft. » Weine ruhig. Wir stecken in Schwierigkeiten.«
Etwas in seiner Stimme erschreckte Elena. Nicht auf die halb freudige Art, wie sie sich noch eine Minute zuvor gefürchtet hatte. Es machte ihr absolut Angst.
Es liegt daran, dass er Angst hat, dachte sie plötzlich und voller Erstaunen. Sie hatte Damon wütend erlebt, sehnsüchtig, kalt, spöttisch, verführerisch– sogar niedergedrückt, beschämt–, aber sie hatte bisher nur ein einziges Mal erlebt, dass er vor irgendetwas Angst hatte. Vor Shinichis anhaltender Macht über seine Erinnerungen. Aber jetzt konnte sie es kaum begreifen. Damon… hatte Angst… um sie.
» Es ist wegen der Dinge, die ich gestern getan habe, nicht wahr?«, fragte sie. » Werden sie mich töten?« Es überraschte sie, wie gelassen sie das sagte. Aber sie empfand tatsächlich nichts als eine vage Beunruhigung und das Verlangen, dafür zu sorgen, dass Damon keine Angst mehr hatte.
» Nein!« Er hielt sie um Armeslänge von sich weg und sah sie an. » Zumindest nicht, ohne mich und Sage zu töten– und all die Leute in diesem Haus ebenfalls, wenn ich sie richtig einschätze.« Er brach ab und schien außer Atem zu sein– was unmöglich ist, rief Elena sich ins Gedächtnis. Er spielt auf Zeit, dachte sie.
» Aber das ist es, was sie tun wollen «, entgegnete sie. Sie wusste nicht, warum sie sich so sicher war. Vielleicht fing sie auf telepathischem Wege etwas auf.
» Sie haben… Drohungen ausgesprochen«, antwortete Damon langsam. » Es geht eigentlich gar nicht um den Fall des alten Drohzne; ich schätze, hier gibt es ständig Kämpfe und Leute werden ermordet, und dann bekommt der Sieger alles. Aber anscheinend hat sich über Nacht die Nachricht von deiner Tat verbreitet. Sklaven in nahe gelegenen Gütern weigern sich, ihren Herren zu gehorchen. Dieser ganze Bezirk der Elendsviertel ist in Aufruhr– und die Leute
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