Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
erkennen
und nicht jede Regung des menschlichen Herzens vorhersehen.
Das eigentliche Problem war jedoch Elena. Sie schien völlig vergessen
zu haben, dass sie all ihre Macht verloren hatte, dass die Wächter sie
wieder zu einem verletzbaren, zerbrechlichen, sterblichen Mädchen
gemacht hatten. Irrigerweise glaubte sie, sich selbst beschützen zu
können.
So waren sie alle. Zuerst war Damon über sich selbst verärgert
gewesen, als er festgestellt hatte, dass er sich verpflichtet fühlte, sie alle zu
beschützen – weil er sie als seine Menschen ansah. Nicht nur seine Prin-
zessin Elena und das kleine Rotkäppchen, sondern alle : diese Hexe Mrs
Flowers, diese Jägerin und dann auch noch diesen Dummkopf von einem
Jungen. Die beiden Letzteren konnten ihn nicht einmal leiden, aber er
fühlte sich trotzdem verpflichtet, sie im Auge zu behalten und sie vor ihrer
angeborenen Dummheit zu bewahren.
Dabei wollte er gar nicht hier sein. Nein, für diese dämliche Idee von
wegen »Wir fassen uns alle an den Händen und strengen uns gemeinsam
an, um unsere Ausbildung voranzubringen« hatte er nur Spott übrig. Er
war schließlich nicht Stefano. Er würde seine Zeit bestimmt nicht damit
verschwenden, so zu tun, als sei er eins dieser sterblichen Wesen.
Aber dann hatte er zu seiner eigenen Verwunderung bemerkt, dass er
sie auch nicht verlieren wollte.
Es war peinlich. Vampire taten sich nicht in Rudeln zusammen wie
Menschen. Es sollte ihm gleichgültig sein, was ihnen zustieß. Diese Ju-
gendlichen sollten Beute sein und weiter nichts.
Aber durch Tod und Wiedergeburt, durch den Kampf gegen das
Phantom und das Loslassen der krankhaften Eifersucht wie des Elends,
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die ihn seit Menschentagen aufgefressen hatten, hatte sich Damon ver-
ändert. Jetzt, da der Hass verschwunden war und ihm nicht mehr wie ein
Stein auf der Brust lastete, fühlte Damon sich leichter. Beinah so, als
nähme er … Anteil.
Peinlich hin oder her, es fühlte sich überraschend gut an, diese Ver-
bindung zu der kleinen Gruppe von Menschen zu spüren. Allerdings wäre
er lieber noch einmal gestorben, als das offen zuzugeben. Während Elena
sich von ihrem Professor verabschiedete und den Hörsaal verließ, klap-
perte er ein paar Mal mit dem Schnabel. Dann breitete Damon die Flügel
aus und flatterte auf einen Baum neben dem Eingang des Gebäudes.
Nicht weit entfernt heftete ein dünner, junger Mann einen Flyer mit
dem Foto eines Mädchens an einen Baumstamm. Studentin verschwun-
den, entzifferte Damon die Überschrift, als er unauffällig hinflog, um das
Ganze näher zu betrachten. Unter dem Foto wurde ihr nächtliches Ver-
schwinden etwas genauer erläutert – allerdings gab es keine Hinweise,
keine Spuren, keine Anhaltspunkte, wo die neunzehnjährige Taylor Har-
rison sein konnte. Verdacht auf Fremdeinwirkung. Die besorgte Familie
stellte eine Belohnung in Aussicht für alle Informationen, die zu Taylors
sicherer Rückkehr führten.
Damon stieß ein raues Krähen aus. Irgendetwas stimmte da nicht. Er
hatte es bereits gewusst, hatte gespürt, dass irgendetwas an diesem Cam-
pus nicht in Ordnung war, als er vor zwei Tagen die Stadt erreicht hatte,
ohne es genau benennen zu können. Aber warum sonst hätte er sich um
seine Prinzessin solche Sorgen machen sollen?
Elena kam aus dem Gebäude und ging über den Campus. Sie schob sich
ihr langes goldenes Haar hinter die Ohren und bemerkte die schwarze
Krähe nicht, die über ihr von Baum zu Baum flatterte. Damon würde
herausfinden, was hier los war, und er würde etwas unternehmen, bevor
es – was immer es war – etwas unternahm. Er würde seine Menschen
beschützen.
Ganz besonders Elena.
Kapitel Acht
»Uh, ich glaube nicht, dass ich in der Mensa hier irgendetwas zu essen
finden werde«, seufzte Elena. »Bei der Hälfte der Sachen kann ich nicht
mal erkennen, was es ist!« Stefano sah geduldig zu, während sie weiter
zur Salatbar wanderte.
»Und das hier ist auch nicht viel besser«, sagte sie, hob demonstrativ
einen Löffel voll wässrigem Hüttenkäse hoch und ließ ihn in den Behälter
zurückklatschen. »Ich dachte, das Essen im College wäre genießbarer als
das in unserer Highschool-Cafeteria, aber anscheinend habe ich mich
geirrt.«
Stefano murmelte etwas Zustimmendes und hielt Ausschau nach einem
Tisch, an den sie sich setzen konnten. Er aß nichts. Menschliches Essen
hatte kaum Geschmack für ihn, und so hatte er an diesem Morgen
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