Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
Gefühl von Neid in sich aufsteigen. Manchmal war es
wirklich hart, der Gute zu sein, derjenige, der sich an die Regeln hielt,
während Damon einfach tat, was er wollte.
Er lehnte sich an Elenas Zimmertür. Auf der anderen Seite des Flurs
war ein Fenster, und als er die kalte Mondsichel hoch am Himmel sah,
dachte er an sein eigenes stilles Zimmer und an die Bücher über Öko-
nomie und Philosophie, die auf ihn warteten.
Nein. Er würde nicht dorthin zurückkehren. Er konnte zwar nicht mit
Elena zusammen sein, aber deshalb brauchte er nicht das Leben eines
Einsiedlers zu führen.
Draußen lag zum ersten Mal seit Semesterbeginn eine gewisse Kühle in
der Luft; die schwüle Hitze des Sommers machte endlich dem frischen
Herbst Platz. Stefano zog die Schultern hoch und schob die Hände in
seine Jeanstaschen.
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Ohne bestimmtes Ziel verließ er den Campus. Er dachte vage an eine
Jagd im Wald, aber er hatte keinen Hunger, er war nur rastlos. Also ver-
ließ er den Pfad, der in Richtung Wald führte, und schlenderte stattdessen
durch die Straßen der kleinen Stadt rund um das College.
Viel konnte man hier nicht gerade unternehmen. In der Stadt gab es
einige Bars, in denen es von College-Studenten wimmelte, und zwei Res-
taurants, die bereits geschlossen waren. Stefano hatte nicht vor, sich in
eine heiße, überfüllte Bar zu zwängen. Er wollte gern unter Leuten sein,
aber nicht unter so vielen, dass sie ihm zwangsläufig zu nahe kamen und
er das Rauschen von Blut unter ihrer Haut spüren konnte. Er wusste, dass
er vor dem Ungeheuer in sich selbst auf der Hut sein musste, und wenn er
so unglücklich war wie heute Abend, war er sich dieses harten und gefähr-
lichen Etwas ganz besonders deutlich bewusst.
Er bog in eine andere Straße ein und lauschte dem leisen Klappern
seiner eigenen Schritte auf dem Bürgersteig. Am Ende der Straße drang
das schwache Dröhnen von Musik an seine Ohren. Es kam aus einem
ziemlich baufälligen Haus, das ein schwach blinkendes Neonschild als
Eddies Billard auswies. Keins der wenigen Autos davor hatte einen
Parkaufkleber von Dalcrest. Offensichtlich eine Kneipe für Einheimische,
nicht für Studenten.
Ohne diese brennende, wütende Einsamkeit in ihm wäre Stefano nicht
hineingegangen. Er sah aus wie ein Student – er war ein Student –, und
Eddies Billard wirkte nicht so, als wären Studenten willkommen. Aber
dieses hässliche Ding in ihm regte sich bei der Vorstellung, vielleicht ein-
en Vorwand geliefert zu bekommen, um ein oder zwei Boxhiebe landen zu
können.
Trotz der grellen Beleuchtung im Inneren hielt das Lokal genau das,
was es von außen versprach: Es war schäbig, die Luft zum Schneiden und
von dicken graublauen Rauchschwaden erfüllt. Eine Jukebox in der Ecke
spielte einen alten Rocksong. In der Mitte des Raumes befanden sich
sechs Billardtische, an den Seiten standen kleine, runde Bistrotischchen
und am gegenüberliegenden Ende war eine Theke. Die Einheimischen,
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die an zwei Billardtischen spielten und an ein paar der kleinen Tische ihr
Bier tranken, musterten ihn mit neutralem Blick und wandten sich dann
wieder ab.
An der Theke entdeckte Stefano einen vertrauten Rücken und einen
glatten, dunklen Schopf. Er war sich sicher gewesen, dass Damon Elena
folgen würde, trotzdem war er nicht überrascht, ihn hier zu sehen. Ste-
fano hatte zwar seine Macht gedrosselt und war ganz auf sein eigenes
Elend konzentriert, aber er war immer noch in der Lage, seinen Bruder zu
spüren. Wenn er vorher darüber nachgedacht hätte, wäre ihm klar ge-
worden, dass Damon hier sein würde.
Damon überraschte Stefanos Auftauchen ebenso wenig. Er drehte sich
um und prostete ihm mit einem schiefen kleinen Grinsen zu. Stefano ging
zu ihm hinüber.
»Hallo, kleiner Bruder«, sagte Damon leise. »Solltest du dich nicht ir-
gendwo verbarrikadieren und den Verlust der bezaubernden Elena
beweinen?«
Stefano seufzte und ließ sich auf einen Barhocker sinken. Er stützte die
Ellbogen auf die Theke und vergrub den Kopf in seinen Händen. Plötzlich
war er schrecklich müde. »Reden wir nicht über Elena«, sagte er. »Ich
will nicht mit dir streiten, Damon.«
»Dann lass es.« Damon klopfte ihm sachte auf die Schulter und stand
auf. »Lass uns Billard spielen.«
Hunderte von Jahren zu leben, hatte auch Vorteile. Einer davon war,
dass man alle Zeit der Welt hatte, sich einige Fertigkeiten anzueignen. Bil-
lard mit seinen
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