Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
unterschiedlichsten Spielarten existierte schon genauso
lange wie er und Damon – obwohl Stefano das moderne Spiel am liebsten
mochte –, und er schätzte den Geruch von Kreide und das Quietschen der
ledernen Spitze des Queues.
Damons Gedanken schienen in eine ähnliche Richtung zu gehen. »Erin-
nerst du dich noch, wie wir als Kinder auf den Wiesen vor Vaters Palazzo
Billard gespielt haben?«, fragte er, während er die Kugeln anordnete.
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»Aber damals war es ein anderes Spiel«, meinte Stefano. »Los geht’s.
Du eröffnest.«
Er hatte das Bild deutlich vor Augen, wie sie beide herumalberten,
während die Erwachsenen alle im Haus waren; sie hatten die Kugeln über
das Gras an ihr Ziel geschoben. Der Stab, den sie dafür benutzten, hatte
eine schwere Spitze. Zu jener Zeit war das Spiel eine Mischung aus mod-
ernem Billard und Krocket gewesen. Stefano sah den wilden jungen Da-
mon von damals vor sich, der sich Faustkämpfe mit Stalljungen lieferte
und in den Nächten durch die Straßen streifte. Aber noch fehlte der Zorn,
der ihm später als junger Mann zu eigen sein sollte. In jenen Tagen hatte
Damon seinem schüchternen, ihn bewundernden jüngeren Bruder er-
laubt, hinter ihm her zu zuckeln und bei seinen Abenteuern
mitzumachen.
Er musste zugeben, dass Elena in einem Punkt recht hatte: Er war gern
mit Damon zusammen und liebte das Gefühl, dass sie wieder Brüder war-
en. Bei Damons Anblick an der Theke hatte er sich gleich etwas weniger
einsam gefühlt. Damon war der Einzige, der ihn schon als Kind gekannt
hatte, der Einzige, der wusste, wie er als lebendiger Mensch gewesen war.
Vielleicht konnten sie Freunde sein, ohne Catarina oder Elena zwischen
ihnen. Vielleicht konnte doch noch etwas Gutes aus alldem erwachsen.
Egal welche Billardvariante, Damon hatte immer gern gespielt. Er war
darin besser als Stefano, aber nach jahrhundertelanger Übung war auch
Stefano gar nicht schlecht.
Doch nach Damons Eröffnungsstoß rollten die Kugeln nur fröhlich über
den Tisch, ohne in einem der Löcher zu verschwinden. Überrascht zog
Stefano eine Augenbraue hoch.
»Was ist los?«, fragte er, während er seinen eigenen Queue mit Kreide
einrieb.
Ich hab die Leute hier drin beobachtet, sagte Damon lautlos. Da sind
zwei raffinierte Abzocker am Werk. Ich will sie zu uns herüberlocken,
damit zur Abwechslung mal sie abgezockt werden.
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Komm schon, fügte er schnell hinzu, als Stefano zögerte. Was soll
falsch daran sein, Abzocker abzuzocken? Es ist so, als würde man einen
Mörder töten, ein Dienst an der Allgemeinheit.
Dein moralischer Kompass ist wirklich total verdreht, gab Stefano
zurück, aber er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Damon hatte
recht, was konnte es schon schaden? »Zwei Kugeln? In das Eckloch«,
fügte er laut hinzu. Er setzte das Queue an und versenkte die zwei Kugeln,
bevor er absichtlich über den Filz des Tisches kratzte und zurücktrat,
damit Damon wieder spielen konnte.
Auf diese Weise fuhren sie fort; sie spielten gut, aber nicht zu gut, und
waren darauf bedacht, wie zwei großspurige College-Studenten auszuse-
hen, die zwar mit einem Billardqueue umgehen konnten, aber für einen
professionellen Zocker keine Herausforderung darstellten. Damons ge-
heuchelter Frust, als er einen Spielzug verpatzte, erheiterte Stefano. Er
hatte ganz vergessen, dass es Spaß machte, an Damons Streichen
teilzuhaben. Stefano gewann mit zwei Kugeln Vorsprung und Damon riss
eine Brieftasche voller Geld hervor.
»Du hast mich erwischt, Mann«, sagte er mit leicht trunkener Stimme,
die nicht ganz so klang wie seine eigene, und streckte ihm einen Zwanzi-
ger hin. Stefano sah ihn blinzelnd an.
Nimm das Geld, forderte Damon ihn stumm auf. Etwas an der starren
Haltung seines Kiefers erinnerte Stefano wieder daran, wie Damon in ihr-
er Kindheit gewesen war. Wie er ihren Vater angelogen hatte, wenn etwas
schiefgegangen war, und wie er darauf baute, dass Stefano ihn nicht ver-
raten würde. Damon hatte ihm blind vertraut, begriff Stefano.
Stefano grinste und steckte den Schein in seine Gesäßtasche. »Noch ein
Spiel?«, schlug er vor und ertappte sich dabei, wie auch er seine Stimme
ein wenig jünger, ein wenig betrunkener klingen ließ.
Sie spielten eine weitere Runde, und Stefano gab den Zwanziger zurück.
»Noch eine?«, fragte er.
Damon begann die Kugeln anzuordnen, dann wurden seine Hände
langsamer. Er schaute kurz zu Stefano hinüber und
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