Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
klang
beinahe besorgt, und Stefano überlegte, wie sein eigenes Gesicht wohl
aussehen mochte, wenn Damon so reagierte. Wahrscheinlich hatte sein
Bruder Elena gerade erst gesehen.
»Manchmal bin ich wirklich ein Narr«, stellte Stefano trocken fest.
»Was willst du, Damon?«
Damon lächelte. »Ich will, dass du mit mir kommst, um Detektiv zu
spielen, kleiner Bruder. Wirklich, alles ist besser, als diesen brütenden
Ausdruck und die Sorgenfalten auf deinem Gesicht ansehen zu müssen.«
Stefano zuckte die Achseln. »Warum nicht?« Mit einem eleganten Sch-
wung sprang er vom Balkon und Damon folgte ihm schnell.
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Während Damon ihn zu ihrem Ziel lotste, setzte er Stefano über die
Einzelheiten ins Bild. Oder vielmehr gelang es Stefano, Damons
Erklärung ein vages Szenario zu entnehmen. Damon war nicht der Typ,
der alles preisgab. Am Ende wusste Stefano nur, dass eine Datenbank-
Recherche in der Bibliothek zu einer kryptischen Warnung einer alten
Bibliothekarin geführt hatte. Stefano grinste in sich hinein bei dem
Gedanken an eine zerbrechliche alte Frau, die Damon drohte.
»Was hast du denn recherchiert?«, fragte Stefano in der Hoffnung,
noch etwas handfestere Informationen zu erhalten. »Und wovon sollst du
ihrer Meinung nach die Finger lassen?« Er rutschte auf dem rauen Ast
der Eiche hin und her, auf dem sie inzwischen beide saßen, und ver-
suchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Damon hatte die Ange-
wohnheit, auf Bäumen zu sitzen. Wohl eine Nebenwirkung davon, dass er
so viel Zeit als Vogel verbrachte. Von diesem Wachposten aus beo-
bachteten sie das Haus der Bibliothekarin, aber Stefano war sich nicht
sicher, wonach genau sie eigentlich Ausschau hielten.
»Es waren nur ein paar alte Fotografien aus der Geschichte des Col-
leges«, antwortete Damon. »Ist nicht weiter wichtig. Ich will mich nur
davon überzeugen, dass sie ein Mensch ist.« Durch ein hell erleuchtetes
Fenster erspähte er die alte Dame, die an ihrem Tee nippte und fernsah.
Verärgert stellte Stefano fest, dass Damon sich auf dem Ast ganz of-
fensichtlich viel wohler fühlte als er selbst. Elegant auf ein Knie gestützt,
beugte er sich vor, und Stefano spürte, dass er Macht in Richtung der
Frau aussandte, um herauszufinden, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches
an sich hatte.
Allerdings schien sein Gleichgewicht eine sehr fragile Angelegenheit zu
sein, da er vollkommen auf die alte Frau konzentriert war. Stefano rückte
näher an Damon heran, und versetzte ihm einen plötzlichen Stoß.
Es war extrem befriedigend, Damons Fassung ausnahmsweise einmal
erschüttert zu sehen. Er jaulte gedämpft auf und fiel vom Baum. Mitten in
der Luft verwandelte er sich in eine Krähe und flatterte wieder nach oben.
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Dann hockte er sich auf einen Ast über Stefano, sah ihn böse an und
krähte seinen Ärger laut heraus.
Stefano schaute zum Fenster. Die Frau schien Damons Jaulen ebenso
wenig gehört zu haben wie den Schrei der Krähe – sie zappte seelenruhig
durch die Kanäle. Als er sich wieder Damon zuwandte, hatte sein Bruder
sich erneut zurückverwandelt.
»Ich hätte gedacht, dass ein Streich wie dieser gegen deinen ehrenvol-
len Moralkodex verstoßen würde«, bemerkte Damon, während er sich
sorgfältig das Haar glatt strich.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Stefano grinsend. »Ich konnte es mir ein-
fach nicht verkneifen.«
Damon zuckte die Achseln und schien den Streich gutmütig zu akzep-
tieren. Als er wieder durch das Fenster der Bibliothekarin schaute, war sie
aufgestanden, um sich noch eine Tasse Tee zu machen.
»Hast du irgendwas an ihr gespürt?«, fragte Stefano.
Damon schüttelte den Kopf. »Entweder versteht sie sich brillant darauf,
ihre wahre Natur vor uns zu verbergen, oder sie ist einfach nur eine
schrullige Bibliothekarin.« Er stieß sich von seinem Ast ab und landete
leichtfüßig im Gras. So oder so, ich habe genug, fügte er lautlos hinzu.
Stefano folgte ihm und kam geschmeidig neben Damon am Fuß des
Baums auf. »Für nichts von alldem hättest du mich gebraucht, Damon«,
sagte er. »Warum hast du mich gebeten, dich zu begleiten?«
Damons Lächeln strahlte in der Dunkelheit. »Ich dachte einfach, du
könntest etwas Abwechslung gebrauchen«, erwiderte er schlicht. Was Ste-
fano zu dem Schluss brachte, dass es nicht das eigenartige Benehmen der
Bibliothekarin war, über das er sich Sorgen machen sollte.
Kapitel Zwanzig
Das hier ist viel schlimmer
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