Tagebuch eines Vampirs - Jagd im Morgengrauen
ahnen, dass jetzt ein noch viel grässlicherer Feind in den Schatten lauerte?
Auch Nicolaus’ Vampirarmee musste auf Jagd gehen, aber sie verhielt sich viel unauffälliger, als Ethans Vampire es getan hatten. Das war natürlich immerhin etwas, aber es bedeutete auch, dass Meredith’ Kurs nach drei abgesagten Terminen wieder stattfand. Und jetzt musste eine Menge Stoff für die Zwischenprüfungen aufgeholt werden.
Aber Meredith würde einen Weg finden, alles unter einen Hut zu bekommen: Studium, Training, Patrouillen. Außerdem wollte sie keine Sekunde mit Alaric versäumen, die er in Dalcrest war. Bei dem Gedanken an ihn breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus: Alarics Sommersprossen, Alarics scharfer Verstand, Alarics Küsse. Bis zu dem gemeinsamen Essen in der Stadt, zu dem sie sich verabredet hatten, waren es nur noch wenige Minuten, wie sie beim Blick auf ihre Uhr feststellte.
Als sie wieder aufschaute, entdeckte sie Cristian auf einer Bank am Wegesrand. Er sah ihr ruhig entgegen.
Meredith griff nach dem kleinen Messer in ihrer Tasche, das sie immer bei sich trug, da sie ihren Kampfstab nicht zum Unterricht mitnehmen konnte. Allerdings hatte sie mitten auf dem Campus und am helllichten Tag auch nicht mit Ärger gerechnet. Dafür hätte sie sich jetzt selbst ohrfeigen mögen: Wie konnte sie nur so idiotisch unvorsichtig sein!
Cristian stand auf und kam auf sie zu, die Hände in einer versöhnlichen Geste ausgestreckt. »M eredith?«, fragte er leise. »I ch bin nicht gekommen, um zu kämpfen.«
Meredith packte das Messer noch fester, während sie es in ihrer Tasche verborgen hielt. Es waren zu viele Leute in der Nähe, als dass sie hätte angreifen können, ohne unschuldige Passanten in Gefahr zu bringen. »I m Wald hatte ich da aber einen ganz anderen Eindruck«, schleuderte sie ihm entgegen. »T u nicht so, als würdest du nicht für Nicolaus arbeiten.«
Cristian zuckte die Achseln. »I ch habe gegen dich gekämpft«, bestätigte er, »a ber ich habe nicht versucht, dir wehzutun.« Meredith rief sich den Kampf mit Cristian noch einmal in Erinnerung. Sie waren einander solch ebenbürtige Gegner gewesen, dass sie ihre gemeinsame Herkunft nicht verleugnen konnten: Jeder Schlag, den er geführt hatte, war von ihr wie automatisch pariert worden, und jeden ihrer Schläge schien er bereits vorhergesehen zu haben. »D enk darüber nach«, sagte Cristian. »N icolaus hat mich erst vor wenigen Wochen verwandelt, und ich erinnere mich an alles aus der Zeit davor, als wir beide ständig Übungskämpfe ausgefochten haben. Aber jetzt bin ich ein Vampir und ein Jäger und deshalb mit Sicherheit viel stärker und schneller als du. Wenn ich dich hätte töten wollen, hätte ich es getan.«
Meredith musste zugeben, dass er recht hatte. Sie zögerte, als Cristian zu der Bank zurückging und sich wieder setzte. Nach einem Moment folgte Meredith ihm. Sie ließ das Messer nicht los, konnte aber zugleich ihre Neugier auf Cristian nicht bezähmen– ihren Bruder, ihren Zwillingsbruder. Er war größer als sie und breiter, aber sein Haar hatte genau den gleichen Braunton. Er hatte den Mund ihrer Mutter, mit einem feinen Grübchen auf der linken Seite, und seine Nase war geformt wie die ihres Vaters.
Als sie Cristian endlich in die Augen sah, war sein Blick bekümmert. »D u erinnerst dich nicht wirklich an mich, oder?«, fragte er.
»N ein«, gab Meredith zu. »W oran erinnerst du dich?«, fragte sie.
In der Realität, das wusste sie, hatte Nicolaus Cristian gekidnappt, als er ein Kleinkind gewesen war, und ihn wie seinen eigenen Sohn großgezogen. Aber in der von den Wächterinnen veränderten Welt wäre ihr Zwillingsbruder mit ihr zusammen aufgewachsen, bis man ihn auf ein Highschool-Internat schickte. Die meisten der übernatürlich begabten Leute auf dieser Welt– wie Tyler zum Beispiel– hatten zweigleisige Erinnerungen, zwei verschiedene, einander überlappende Sequenzen von ein und demselben Ereignis. Würde sich Cristian jetzt, da Nicolaus ihn erneut zu einem Vampir gemacht hatte, an beide Kindheiten erinnern?
»I ch erinnere mich daran, mit dir aufgewachsen zu sein, Meredith«, berichtete er. »D u bist meine Zwillingsschwester. Wir…« Er lachte, ein trauriges, schwaches, ungläubiges Lachen, kaum mehr als ein Schnauben, und schüttelte den Kopf. »E rinnerst du dich, wie Dad uns das Morsealphabet beigebracht hat? Nur für den Fall des Falles, wie er meinte? Und dass wir Nachrichten an die Wand
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