Tagebuch eines Vampirs - Jagd im Morgengrauen
zwischen unseren Zimmern geklopft haben, wenn wir schlafen sollten?« Er sah sie hoffnungsvoll an, aber nun war Meredith diejenige, die den Kopf schüttelte.
»D ad hat mir das Morsealphabet beigebracht«, bestätigte sie, »a ber ich hatte niemanden, dem ich Nachrichten übermitteln konnte.«
»N icolaus hat mir erzählt, dass er mich in deiner Realität von zu Hause weggeholt und zu einem Vampir gemacht hat, als ich noch ganz klein war. Aber es ist trotzdem unheimlich für mich, dass du dich überhaupt nicht an mich erinnerst. Wir stehen– wir standen uns so nah«, erzählte Cristian. »W ir waren, ähm, jeden Sommer am Strand. Bis zum letzten Sommer, als ich einberufen wurde. Wir haben kleine Meerestiere gefunden und sie in die Gezeitentümpel verfrachtet wie in ein Aquarium.« Seine grauen Augen, umrahmt von schweren schwarzen Wimpern, waren groß und traurig. Sie sahen ihren eigenen Augen ähnlich, vielleicht eine Schattierung heller, aber gerade jetzt erinnerten sie Meredith eindringlich an die Augen ihrer Mutter. Mit Schrecken begriff sie, dass ihre Eltern inzwischen vom Militär die Nachricht erhalten haben mussten, dass Cristian vermisst wurde.
»E s tut mir leid«, erwiderte sie, und es tat ihr tatsächlich leid. »I ch erinnere mich nicht daran, als Kind jemals am Strand gewesen zu sein. Ich denke, meine Eltern– unsere Eltern– hatten keine Lust mehr auf einen Familienurlaub, nachdem du verschwunden warst.«
Cristian seufzte und stützte den Kopf in die Hände. »I ch wünschte, wir hätten eine Chance gehabt, uns kennenzulernen, als ich menschlich war«, sagte er. »I n dem einen Augenblick liege ich noch in der Kaserne, umringt von einem Haufen anderer Jungs, und frage mich, was um alles in der Welt in mich gefahren ist, dass ich mich direkt nach der Highschool zum Militärdienst gemeldet habe, und im nächsten ergreift mich dieser Vampir und erzählt mir all diese verrückten Dinge– dass ich immer ihm gehört habe und dass er alles in Ordnung bringen werde.« Er stieß ein weiteres traurig schnaubendes Lachen aus. »D a trainiere ich mein ganzes Leben lang, und der erste Vampir, dem ich begegne, überwältigt mich sofort. Dad wird so was von sauer sein.«
»E s ist nicht deine Schuld«, tröstete Meredith ihn und zuckte zusammen, als sie begriff, dass ihr Dad tatsächlich irgendwie sauer sein würde. Vielleicht auch eher traurig und enttäuscht, aber er wäre mit Sicherheit der Ansicht, dass Cristian einen besseren Kampf hätte hinlegen müssen.
Cristian zog ironisch eine Augenbraue hoch und sie mussten beide lachen. Es war unheimlich, stellte Meredith fest: Weil sie gemeinsam spürten, was es bedeutete, Nando Sulez’ Kind zu sein, hatte sie für diesen Moment wirklich das Gefühl, Cristian als ihren Bruder zu kennen.
»I ch wünschte, wir hätten wenigstens jetzt ein bisschen Zeit, einander richtig kennenzulernen«, sagte sie.
Wäre sie eine andere geworden, wenn sie mit einem Bruder aufgewachsen wäre?, fragte sie sich. Nicolaus’ Angriff auf ihre Familie hatte ihre Eltern verändert: In der von den Wächterinnen erschaffenen Realität, in der sie kein Kind verloren hatten, waren sie weniger argwöhnisch und viel offener und zugänglicher. Wäre sie mit diesen Eltern aufgewachsen und mit Cristian an ihrer Seite– jemandem, mit dem sie wetteifern konnte, jemandem, der ihr geholfen hätte, die Last der Erwartungen ihrer Eltern zu tragen, jemandem, der all die Geheimnisse ihrer Familie kannte–, wie hätte sie sich dann wohl entwickelt? In der kurzen Zeit ihrer Freundschaft mit Samantha– Jägerin wie sie– hatte sie sich weniger allein gefühlt. Ein Bruder hätte alles verändert, dachte Meredith sehnsüchtig.
»I ch interessiere mich nicht für Nicolaus’ großes Finale«, sagte Cristian nach einem Moment des Schweigens. »I ch bin jetzt ein Vampir, und damit fertig zu werden, ist schon hart genug für mich. Es ist schwer, gegen meine Gefühle anzukämpfen, wenn ich in Nicolaus’ Nähe bin. Aber ich bin immer noch dein Bruder. Ich bin immer noch ein Sulez. Ich will das nicht verlieren. Wieso sollten wir eigentlich nicht ein wenig Zeit miteinander verbringen können? Wie Bruder und Schwester.« Er sah sie traurig an.
Meredith schluckte. »O kay«, antwortete sie und löste die Finger um den Griff ihres Messers. »L ass es uns versuchen.«
Liebes Tagebuch,
ich muss mich wappnen. Wenn die Wächter meine Aufgabe nicht mehr ändern, wird sich meine Macht darauf konzentrieren, Damon
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