Tagebuch eines Vampirs - Jagd im Morgengrauen
knurrte vor Ärger, und der Zander, den er erschaffen hatte, erschlaffte neben ihr in der Luft, sodass ihm der Kopf auf eine Seite fiel. Er wirkte verstörend tot, und obwohl Bonnie wusste, dass es nicht Zander war, dass das alles hier nicht real war, musste sie den Blick abwenden.
Natürlich hatte sie schon die ganze Zeit über gewusst, dass dies ein Traum war. Aber sie hatte die Hauptsache der Traumkontrolle vergessen: Träume waren nicht real.
»D as hier ist nur ein Traum«, murmelte sie jetzt vor sich hin. »N ichts davon entspricht der Wirklichkeit, und ich kann verändern, was immer ich will.« Sie betrachtete den falschen Zander und schnippte ihn einfach weg.
»D u willst clever sein, wie?«, kommentierte Nicolaus, und dann ließ er sie mit einer einfachen Handbewegung fallen.
Bonnie schnappte erschrocken nach Luft, bevor ihr einfiel, dass sie sich einen Boden unter den Füßen schaffen konnte. Sie stolperte bei der Landung und ihr Knöchel knickte um, aber sie war nicht verletzt.
»E s ist noch nicht vorbei, Rotkehlchen.« Nicolaus kletterte vom Geländer und kam durch die Luft auf sie zu wie auf einem unsichtbaren Weg. Sein schmutziger Regenmantel flatterte in der Brise. Er kicherte und das machte Bonnie Angst. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, sammelte sie alle ihre geistigen Kräfte und schleuderte sie Nicolaus, so fest sie konnte, entgegen.
Nicolaus flog rückwärts, schlaff wie eine Stoffpuppe, und Bonnie konnte beobachten, wie sich auf seiner zunächst verblüfften Miene Zorn ausbreitete. Und dann war er nur noch ein fallender schwarzer Punkt am Horizont. Doch plötzlich verharrte dieser Punkt vor Bonnies Augen, drehte sich um, stieg wieder auf und kam zu ihr zurück. Er bewegte sich erschreckend schnell, und bald darauf konnte Bonnie die Umrisse eines großen Raubvogels ausmachen, eines Habichts vielleicht, der auf sie zuschoss.
Zeit aufzuwachen, dachte sie. »E s ist nur ein Traum«, sagte sie. Nichts geschah. Nicolaus kam immer näher.
»E s ist nur ein Traum«, wiederholte sie, »u nd ich kann aufwachen, wann immer ich will. Ich will jetzt aufwachen.«
Und dann erwachte sie tatsächlich, unter ihrer warmen Decke in ihrem eigenen Bett.
Sie keuchte erleichtert auf– und begann zu weinen. Schluchzend tastete Bonnie auf dem Nachttisch nach ihrem Handy. Die Bilder von Zander– wie er Shay küsste, wie er machtlos in der Luft hing– ließen sie nicht los. Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass das nicht der echte Zander gewesen war, aber von ihrem Gefühl her musste sie seine Stimme hören. Doch sie zögerte, seine Nummer zu wählen.
Es war nicht fair, ihn anzurufen, oder? Sie war schließlich diejenige, die gesagt hatte, dass sie sich eine Zeit lang voneinander trennen sollten, damit Zander feststellen konnte, was das Richtige für ihn war, nicht nur als Mensch, sondern als Alphatier eines Rudels. Es wäre nicht fair, ihn jetzt anzurufen, damit es ihr selbst besser ging, nur weil Nicolaus Zanders Bild in Bonnies Traum eingesetzt hatte.
Sie schaltete das Handy aus und legte es zurück auf den Nachttisch. Sie schluchzte heftiger.
»B onnie?« Die Matratze senkte sich, als Meredith sich darauf setzte. »B ist du okay?«
Am Morgen würde Bonnie Meredith und den anderen alles erzählen. Sie mussten unbedingt erfahren, dass Nicolaus wieder in ihre Träume eingedrungen war, und dass es Bonnie diesmal gelungen war, ihn abzuwehren, dank der Technik, die Alaric recherchiert hatte. Aber jetzt konnte sie nicht darüber reden, nicht in der Dunkelheit.
»E in schlimmer Traum«, murmelte sie nur. »B leib kurz hier, okay?«
»O kay«, stimmte Meredith zu und legte ihrer Freundin einen starken Arm um die Schulter. »E s wird alles wieder gut, Bonnie«, sagte Meredith und tätschelte ihr den Rücken.
»D as glaube ich nicht«, erwiderte Bonnie, begrub den Kopf an Meredith’ Schulter und weinte.
Kapitel Neunundzwanzig
Meredith stopfte sich ihre Notizen über Landschaftsökologie in die Tasche, während sie über den Campus ging. Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile wirkte das College beinahe normal: Studenten saßen grüppchenweise im Gras, Paare hielten Händchen und spazierten über die Wege. Ein Jogger drängte sich an Meredith vorbei und sie trat zur Seite. Seit dem Tod der letzten Vitale-Vampire hatte es so gut wie keine Angriffe mehr auf dem Campus gegeben, und die Furcht, die alle dazu gebracht hatte, sich in den Gebäuden zu verbarrikadieren, verebbte. Wie sollten die Studenten auch
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