Tagebuch eines Vampirs - Jagd im Morgengrauen
ihr erzählt, dass sein Philosophieseminar wieder begonnen hatte, eine Woche nachdem die Leiche einer Studentin auf dem Campus gefunden worden war. Na ja, sie würden ihn ins Bild setzen, sobald er eintraf.
Elena klingelte und wartete ungeduldig. Nach einer Minute versuchte sie es noch einmal, dann klopfte sie an die Tür. Aber im Haus rührte sich nichts. Andrés, erinnerte sie sich, hatte vorgehabt, den Nachmittag in der Bibliothek zu verbringen und danach auswärts zu essen.
Wahrscheinlich hatte James noch schnell etwas erledigen müssen. Elena zog ihr Handy wieder hervor und wählte James’ Nummer. Sie ließ es lange läuten und war sich ziemlich sicher, dass sie James’ Telefon im Haus klingeln hörte.
Also war er ausgegangen und hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten. Elena trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Das bedeutete noch lange nicht, dass irgendetwas nicht stimmte.
Sollte sie sich einfach auf die Veranda setzen und auf James warten? Stefano würde wahrscheinlich auch bald hier sein. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war bereits fünf. Um halb sechs, erinnerte sie sich jetzt, endete Stefanos Kurs. Doch es würde bald dunkel sein und nach Einbruch der Dunkelheit wollte sie hier auf keinen Fall allein warten. Nicht, solange Nicolaus’ Vampirarmee ihr Unwesen trieb.
Und falls tatsächlich etwas nicht stimmte? Warum hätte James weggehen sollen, wenn er Elena zuvor gebeten hatte, herüberzukommen? Falls er da war und die Tür nicht öffnete… Elenas Herz hämmerte. Sie versuchte, durch das Fenster über der Veranda zu schauen, aber die Rollläden waren heruntergelassen, und sie sah nur ihr eigenes Spiegelbild.
Elena traf eine Entscheidung. Sie drehte den Türknauf. Er bewegte sich leicht in ihrer Hand und die Tür ging auf. Elena trat ein. Das gehörte sich nicht– Tante Judith wäre entsetzt zu wissen, dass Elena eigenmächtig in ein fremdes Haus eindrang–, aber sie war sich sicher, dass James es verstehen würde.
Elena hatte bereits die Tür hinter sich geschlossen, als sie das Blut bemerkte. Ein breiter, langer und immer noch feuchter Streifen Blut an der Wand, genau auf Handhöhe. Als sei jemand mit blutigen Händen durch den Flur gegangen und hätte das Blut dabei nachlässig an die Wand gewischt.
Elena erstarrte. Dann setzten ihre Gedanken aus und sie ging weiter. Etwas in ihr schrie Stoppstoppstopp, aber ihre Füße setzten ihren Weg einfach fort, als hätte sie darüber keine Kontrolle, immer weiter den Flur entlang und in die für gewöhnlich ordentlich aufgeräumte und einladende Küche.
Die Küche war immer noch von Sonnenlicht durchflutet, das durch die nach Westen gehenden Fenster fiel. Die Kupfertöpfe, die von der Decke hingen, reflektierten das Licht und warfen es in alle Ecken.
Überall auf den glänzend weißen Oberflächen prangten große, dunkle Blutspritzer.
James’ Leiche lag über dem Küchentisch. Elena wusste auf den ersten Blick, dass er tot war. Er musste tot sein– niemand konnte überleben, wenn sein Inneres so aus ihm herausquoll. Aber sie ging trotzdem zu ihm. Benommen hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um das ansteigende Wimmern zu unterdrücken. Sie riss sich zusammen, ließ die Hand wieder sinken und schluckte hörbar. Oh Gott.
»J ames«, sagte sie und drückte ihre Finger auf seinen Hals, in der Hoffnung, seinen Puls zu finden. Seine Haut war noch warm und klebrig von Blut, aber da war nicht der geringste Herzschlag. »O h, James, oh, nein«, flüsterte sie fassungslos.
Er war einst als Student ein wenig in ihre Mutter verliebt gewesen, erinnerte sie sich; er war der beste Freund ihres Vaters gewesen. Manchmal hatte er etwas steif gewirkt und nicht gerade mutig, aber er hatte ihr geholfen. Und er war witzig und klug gewesen, und er hatte es einfach nicht verdient, auf diese Weise zu sterben. Nur weil er Elena helfen wollte. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es ihretwegen geschehen war: Nicolaus hatte James getötet, weil er sich auf Elenas Seite geschlagen hatte.
Sie aktivierte ihre Wächterkräfte und versuchte, seine Aura zu spüren. Vielleicht konnte sie noch irgendetwas für ihn tun. Aber es gab keine Aura mehr. James’ Körper war hier, doch alles, was den Menschen ausmachte, war verschwunden.
Heiße Tränen rannen ihr übers Gesicht und Elena wischte sie zornig beiseite. Ihre Hand war klebrig von James’ Blut. Von Übelkeit gepackt, wischte sie sie an einem der Küchentücher ab, bevor sie ihr
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