Tagebuch eines Vampirs - Jagd im Morgengrauen
Handy wieder hervorholte. Sie brauchte Stefano. Stefano konnte helfen.
Aber Stefano meldete sich nicht. Elena hinterließ eine kurze, besorgte Nachricht und steckte das Handy wieder ein. Sie musste hier raus. Sie konnte es nicht ertragen, noch länger in diesem Raum mit dem Schlachthausgeruch zu bleiben. Sie würde draußen auf Stefano warten.
Gerade als sie gehen wollte, fiel ihr Blick in dieser über und über blutgetränkten Küche fast zwingend auf den völlig unbefleckten, makellos weißen Bogen teuren Briefpapiers, der neben der Leiche auf dem Küchentisch lag. Elena zögerte.
Fast gegen ihren Willen trat sie langsam wieder an den Tisch, nahm das Blatt in die Hand und drehte es um. Die andere Seite war genauso leer und sauber.
Das letzte Mal, erinnerte sie sich, waren schmutzige Fingerabdrücke drauf. Vielleicht hatte Nicolaus sich die Hände gewaschen, nachdem er die Wände besudelt hatte. Ein tiefer, hitziger Zorn keimte in ihr auf. Es kam ihr höhnisch und entehrend vor, dass sich Nicolaus– nach dieser Tat– seine Hände vielleicht in jenem Waschbecken gewaschen hatte, das James stets so sauber gehalten hatte, und dass er sich die Finger an James’ sorgfältig arrangierten Küchentüchern abgetrocknet hatte.
Obwohl sie ahnte, was gleich folgen würde, versteifte sie sich und zischte unwillkürlich durch die zusammengebissenen Zähne, als plötzlich schwarze Buchstaben auf der Seite erschienen– lange, zackige Striche, wie von einem unsichtbaren Messer eingeritzt. Sie las die Worte mit wachsendem Grauen.
Elena,
ich habe dir gesagt, dass ich die Wahrheit herausfinden würde. Er hatte viel zu erzählen, bis ich ihn habe sterben lassen.
Bis zum nächsten Mal,
Nicolaus
Elena krümmte sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen. Nein, dachte sie. Bitte, nicht. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, hatte Nicolaus ihr Geheimnis herausgefunden. Er wusste jetzt, wie er sie töten konnte– dessen war sie sich sicher.
Aber sie musste sich zusammenreißen. Sie musste weitermachen. Elena schauderte. Ein Ruck durchfuhr sie und dann holte sie tief Luft. Sorgfältig faltete sie den Bogen Papier zusammen und steckte ihn in ihre Tasche. Sie würde ihn Stefano und den anderen zeigen.
Sie funktionierte immer noch wie aufgezogen, als sie nach draußen ging und James’ Haustür energisch hinter sich zuzog. Da war ein Blutfleck auf ihrer Jeans, und sie rieb geistesabwesend daran, dann hob sie die Hand und starrte auf die roten Streifen. Plötzlich musste sie würgen und sie übergab sich in die Büsche neben der Tür.
Er weiß Bescheid. Oh Gott, Nicolaus weiß Bescheid.
Kapitel Zweiunddreissig
»D anke, dass du dich mit mir triffst«, sagte Cristian. Er lächelte Meredith von seinem Platz auf der Hantelbank an. »I ch weiß, du erinnerst dich nicht«, fügte er hinzu, »a ber wir haben häufig zusammen trainiert.«
»W irklich?«, fragte Meredith interessiert. Aber sie glaubte es ihm sofort: Jedes Kind ihres Vaters würde sich alle Mühe geben, herausragende körperliche Leistungen zu erbringen. »W er von uns war besser?«
Cristians Lächeln wurde breiter. »D as wurde ziemlich hitzig diskutiert«, antwortete er. »D u warst ein wenig schneller als ich und besser mit dem Stab und in den Kampfkünsten. Aber ich war stärker und besser im Umgang mit Messern und Bögen.«
»O h.« Meredith war bis jetzt der Meinung gewesen, sie könne ziemlich gut mit Messern umgehen. Natürlich hatte sie in ihrer Realität– der echten Realität, rief sie sich ins Gedächtnis– viel mehr Kampferfahrung gewonnen als Cristian. »V ielleicht sollten wir herausfinden, ob das immer noch stimmt«, schlug sie herausfordernd vor. »I ch bin nämlich ziemlich stark geworden.«
»M eredith.« Cristian kicherte. »I ch bin jetzt ein Vampir. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ebenfalls stärker geworden bin.«
Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, fiel sein Gesicht in sich zusammen. »E in Vampir«, stammelte er. »D as ist schwer zu glauben, weißt du?« Er schüttelte den Kopf. »I ch bin jetzt eines dieser Wesen, die ich hassen sollte.« Er hob den Blick und sah Meredith trostlos in die Augen.
Ein Stich des Mitleids durchzuckte Meredith. Sie erinnerte sich nur zu gut an das Gefühl, als sie erfuhr, in welchem Zustand Nicolaus sie selbst zurückgelassen hatte– bevor die Realität von den Wächterinnen verändert worden war–, als lebendiges Mädchen mit vampirischen Kätzchenzähnen und dem Verlangen
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