Tagebuch für Nikolas
dass ich dich im Arm gehalten und geliebt habe, in den zwölf Monaten, bevor Gott dich mir genommen hat?
Ist es nicht ein Glück, dass ich dich kennen gelernt habe, mein süßer kleiner Junge, mein lieber, lieber Sohn?
KATIE DREHTE LANGSAM den Kopf zur Decke des Badezimmers und schloss die Augen, so fest sie konnte. Ein leises Stöhnen drang aus ihrer Brust. Tränen quollen ihr zwischen den Augenlidern hervor und flossen ihre Wangen hinab. Sie atmete schwer und schlang die Arme um die Schultern.
Merlin stand auf der Türschwelle und winselte, und Katie flüsterte: »Ist schon gut, Junge.«
Ein heftiger Schmerz stieg in ihr hoch und stach wie ein heißes Schüreisen in ihre Lunge. O Gott, warum hast du so etwas zugelassen?
Schließlich schlug Katie wieder die Augen auf. Sie konnte durch den Tränenschleier kaum etwas erkennen. Auf der allerletzten Seite des Tagebuchs war mit Klebestreifen ein Umschlag befestigt.
Darauf stand einfach nur Katie.
Mit beiden Händen wischte sie die Tränen weg. Um sich zu beruhigen, atmete sie tief durch. Und noch einmal. Es half nicht viel. Sie öffnete den schlichten, weißen Umschlag, der an sie adressiert war.
Der Brief darin war in Matts Handschrift geschrieben. Ihre Finger zitterten, als sie ihn entfaltete. Und als sie zu lesen anfing, kamen ihr wieder die Tränen.
Katie, liebe Katie,
jetzt weißt du, was ich dir in all diesen Monaten nicht habe sagen können. Du kennst meine Geheimnisse. Ich wollte es dir erzählen, fast von dem Tag an, an dem wir uns kennen gelernt haben. Ich habe sehr lange getrauert, und nichts und niemand konnte mich trösten. Deshalb habe ich meine Vergangenheit vor dir verborgen. Vor allem vor dir. Es gibt ein paar Zeilen aus einem Gedicht über die Fischerboote und ihre Besatzungen, die jemand in die Bar der Docks Tavern auf Marthas Vineyard geritzt hat. Die ersehnten Schiffe/kehren leer zurück/oder versinken im Meer/und Augen voller Tränen/finden nimmer Schlaf. Ich habe die Verse eines Nachts in der Docks Tavern entdeckt, als ich nicht mehr weinen und nicht schlafen konnte, und die schreckliche Wahrheit in diesen Zeilen hat mich fertig gemacht.
Matt
Mehr hatte er nicht geschrieben, doch Katie brauchte mehr. Sie musste Matt finden.
SIE WAR IMMER eine Kämpferin gewesen. Sie hatte ihre Ängste besiegt, als sie ganz allein nach New York gezogen war. Und sie hatte immer den Mut gehabt, zu tun, was sie tun musste.
Katie nahm den ersten Pendlerflug am Morgen nach Boston. Am Logan International Airport erwartete sie ein Mietwagen, der sie von Boston nach Woods Hole und zur Fähre nach Martha’s Vineyard bringen sollte.
Sie ging zum Schalter der Dampfschifffahrtgesellschaft in Woods Hole, kaufte ihren Fahrschein und ging an Bord einer Doppeldeckerfähre namens Islander.
Während der fünfundvierzigminütigen Überfahrt dachte sie an Suzanne und deren Ankunft auf der Insel, nachdem sie Boston verlassen hatte. Katie fragte sich, ob auch Suzanne an Bord der Islander gewesen war. Sie erinnerte sich an die letzten Worte, die sie Nikolas geschrieben hatte: Ich kann es kaum erwarten, dich am Morgen zu sehen.
Katie fiel auf, dass sie gar kein Manuskript mitgebracht hatte, das sie im Flugzeug oder auf der Fähre lesen konnte. Arbeit ist ein Gummiball, dachte sie. Das stimmt.
Sie nahm das rhythmische, stampfende Schlagen der Wellen gegen den Bug der alten Fähre wahr; nahm den malerischen Anblick in sich auf, wie Martha’s Vineyard immer näher kam, und verspürte jedes Mal leichte Übelkeit, wenn eine Welle gegen den Schiffsrumpf schlug.
Matt war eine Glaskugel. Er war angestoßen, gezeichnet, beschädigt worden, aber vielleicht war er noch nicht zerschlagen. Vielleicht aber doch.
Dieses Rätsel würde nie gelöst werden.
Es sei denn, sie fand ihn.
Während die Islander sich immer mehr der Insel näherte, konnte Katie den Blick nicht vom alten Fähranleger von Oak Bluffs abwenden. Es war ein einstöckiges graues Holzgebäude, das mindestens hundert Jahre alt aussah. Auf der einen Seite des Fährgebäudes konnte sie einen Strand sehen, auf der anderen die kleine Stadt Oak Bluffs.
Sie suchte mit Blicken das Fährgebäude ab, den Strand, die Stadt - sie suchte Matt.
Sie konnte ihn nirgends entdecken.
DIE STADT OAK Bluffs selbst begann beim Fährgebäude, direkt auf der anderen Straßenseite. Vor dem Gebäude parkten mehrere Taxis, in seltsamen Farben lackiert. Natürlich wartete Matt auch dort nicht darauf, dass Katie erschien. Matt
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