Tagebuch (German Edition)
Tat, es war nett, aber die Arbeit … puh!
»Ihr müsst am Samstagmorgen alle enthülsen«, kündigte Mutter bei Tisch an.
Und wirklich, heute Morgen nach dem Frühstück erschien der große Emailletopf auf dem Tisch, bis zum Rand gefüllt mit Erbsen. Enthülsen ist eine langweilige Arbeit, aber dann solltest du erst mal versuchen, die »Schoten auszunehmen«. Ich glaube, dass die Mehrzahl der Menschen nicht weiß, wie vitaminreich, lecker und weich die Schoten von Erbsen schmecken, wenn das innere Häutchen herausgenommen wird. Die drei gerade angeführten Vorteile kommen aber nicht gegen die Tatsache an, dass die Portion, die man essen kann, wohl dreimal größer ist, als wenn man nur die Erbsen isst.
Dieses »Häutchen abziehen« ist eine außergewöhnlich genaue und fummelige Arbeit, die vielleicht für pedantische Zahnärzte oder genaue Büroarbeiter geeignet ist, für einen ungeduldigen Backfisch wie mich ist es schrecklich. Um halb zehn haben wir angefangen, um halb elf setze ich mich, um elf stehe ich wieder auf, um halb zwölf setze ich mich. Es summt in meinen Ohren: Spitze abknicken, Häutchen entfernen, Fäden abziehen, Hülse werfen, Spitze abknicken, Häutchen entfernen, Fäden abziehen, Hülse werfen usw. usw. Es dreht sich vor meinen Augen, grün, grün, Würmchen, Fäden, verfaulte Hülse, grün, grün, grün. Aus Stumpfsinn und um doch etwas zu tun, quatsche ich den ganzen Vormittag allen möglichen Unsinn, bringe alle zum Lachen und komme fast um vor lauter Langeweile. Mit jedem Faden, den ich ziehe, wird mir wieder klarer, dass ich nie, nie nur Hausfrau sein will!
Um zwölf Uhr frühstücken wir endlich, aber von halb eins bis Viertel nach eins müssen wir wieder Häutchen entfernen. Ich bin fast seekrank, als ich aufhöre, die anderen auch ein bisschen. Ich schlafe bis vier Uhr und bin dann immer noch durcheinander wegen der elenden Erbsen.
Deine Anne M. Frank
Samstag, 15. Juli 1944
Liebe Kitty!
Wir hatten von der Bibliothek ein Buch mit dem herausfordernden Titel: »Wie finden Sie das moderne junge Mädchen?« Über dieses Thema möchte ich heute mal sprechen.
Die Autorin kritisiert »die Jugend von heute« von Kopf bis Fuß, ohne jedoch alles, was jung ist, ganz und gar abzulehnen als zu nichts Gutem im Stande. Im Gegenteil, sie ist eher der Meinung, dass die Jugend, wenn sie wollte, eine große, schönere und bessere Welt aufbauen könnte, sich aber mit oberflächlichen Dingen beschäftigt, ohne dem wirklich Schönen einen Blick zu gönnen.
Bei einigen Passagen hatte ich das starke Gefühl, dass die Schreiberin mich mit ihrem Tadel meinte, und darum will ich mich dir endlich mal ganz offen legen und mich gegen diesen Angriff verteidigen.
Ich habe einen stark ausgeprägten Charakterzug, der jedem, der mich länger kennt, auffallen muss, und zwar meine Selbsterkenntnis. Ich kann mich selbst bei allem, was ich tue, betrachten, als ob ich eine Fremde wäre. Überhaupt nicht voreingenommen oder mit einem Sack voller Entschuldigungen stehe ich dann der alltäglichen Anne gegenüber und schaue zu, was diese gut oder schlecht macht. Dieses »Selbstgefühl« lässt mich niemals los, und bei jedem Wort, das ich ausspreche, weiß ich sofort, wenn es ausgesprochen ist: »Dies hätte anders sein müssen« oder »Das ist ganz gut so, wie es ist«. Ich verurteile mich selbst in so unsagbar vielen Dingen und sehe immer mehr, wie wahr Vaters Worte waren: »Jedes Kind muss sich selbst erziehen.«
Eltern können nur Rat oder gute Anweisungen mitgeben, die endgültige Formung seines Charakters hat jeder selbst in der Hand. Dazu kommt noch, dass ich außerordentlich viel Lebensmut habe, ich fühle mich immer so stark und im Stande, viel auszuhalten, so frei und so jung! Als ich das zum ersten Mal merkte, war ich froh, denn ich glaube nicht, dass ich mich schnell unter den Schlägen beuge, die jeder aushalten muss.
Aber darüber habe ich schon oft gesprochen, ich möchte zu dem Kapitel »Vater und Mutter verstehen mich nicht« kommen. Mein Vater und meine Mutter haben mich immer sehr verwöhnt, waren lieb zu mir, haben mich gegen die von oben verteidigt und getan, was Eltern nur tun können. Und doch habe ich mich lange so entsetzlich einsam gefühlt, ausgeschlossen, vernachlässigt, nicht verstanden. Vater versuchte alles, was nur ging, um meine Aufsässigkeit zu besänftigen, das half nichts. Ich habe mich selbst geheilt, indem ich mir das Falsche meines Tuns vorgehalten habe.
Wie kommt es nun,
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