Tagebuch (German Edition)
ein guter Mensch werden, ohne Vorbilder und ohne Reden, damit ich später besonders stark werde?
Wer außer mir wird später alle diese Briefe lesen? Wer außer mir wird mich trösten? Ich habe so oft Trost nötig. Ich bin so häufig nicht stark genug und versage öfter, als dass ich den Anforderungen genüge. Ich weiß es und versuche immer wieder, jeden Tag aufs Neue, mich zu bessern.
Ich werde unterschiedlich behandelt. Den einen Tag ist Anne so vernünftig und darf alles wissen, am nächsten höre ich wieder, dass Anne noch ein kleines, dummes Schaf ist, das nichts weiß und nur glaubt, Wunder was aus Büchern gelernt zu haben! Ich bin nicht mehr das Baby und das Hätschelkind, das immer ausgelacht werden darf. Ich habe meine eigenen Ideale, Vorstellungen und Pläne, aber ich kann sie noch nicht in Worte fassen.
Ach, mir kommt so viel hoch, wenn ich abends allein bin, auch tagsüber, wenn ich die Leute aushalten muss, die mir zum Hals heraushängen oder meine Absichten immer verkehrt auffassen. Letztlich komme ich deshalb immer wieder auf mein Tagebuch zurück, das ist mein Anfang und mein Ende, denn Kitty ist immer geduldig. Ich verspreche ihr, dass ich trotz allem durchhalten werde, mir meinen eigenen Weg suche und meine Tränen hinunterschlucke. Ich würde nur so gern auch mal einen Erfolg sehen und ein einziges Mal von jemandem ermutigt werden, der mich lieb hat.
Verurteile mich nicht, sondern betrachte mich als jemanden, dem es auch mal zu viel wird!
Deine Anne
Mittwoch, 3. November 1943
Liebe Kitty!
Um uns etwas Abwechslung und Fortbildung zu verschaffen, hat Vater den Prospekt des Leidener Lehrinstituts angefordert. Margot hat das dicke Buch schon dreimal durchgeschaut, ohne dass sie etwas nach ihrem Geschmack oder ihrer Geldbörse fand. Vater entschied sich schneller, er wollte eine Probelektion »Grundkurs Latein« bestellen. Gesagt, getan. Die Lektion kam, Margot machte sich begeistert an die Arbeit, und der Kurs, egal wie teuer, wurde genommen. Für mich ist er viel zu schwer, obwohl ich sehr gerne Latein lernen würde.
Damit ich auch etwas Neues anfangen kann, bat Vater Kleiman um eine Kinderbibel, damit ich endlich auch etwas vom Neuen Testament erfahre.
»Willst du Anne zu Chanukka etwa eine Bibel schenken?«, fragte Margot etwas entsetzt.
»Ja … eh, ich denke, dass Nikolaus eine passendere Gelegenheit ist«, antwortete Vater.
Jesus zu Chanukka, das passt nun mal nicht.
Weil der Staubsauger kaputt ist, muss ich jeden Abend den Teppich mit einer alten Bürste ausbürsten. Fenster zu, Licht an, Ofen auch, und dann los, mit einem Handbesen über den Fußboden. Das kann nicht gut gehen, dachte ich mir schon beim ersten Mal, das muss zu Klagen führen. Und jawohl, Mutter bekam Kopfschmerzen von den dicken Staubwolken, die im Zimmer herumwirbelten, Margots neues lateinisches Wörterbuch war vom Schmutz bedeckt, und Pim murrte, dass sich der Boden überhaupt nicht verändert hätte. Gestank als Dank, nennt man das.
Die neue Hinterhaus-Regelung ist, dass der Ofen sonntags um halb acht angemacht wird statt um halb sechs Uhr morgens. Ich finde das gefährlich. Was werden wohl die Nachbarn über unseren rauchenden Schornstein denken?
Dasselbe ist mit den Vorhängen. Von Anfang unserer Versteckzeit an sind sie festgesteckt. Manchmal bekommt aber einer der Herren oder Damen eine Anwandlung und muss mal schnell hinausschauen. Ein Sturm von Vorwürfen ist die Folge. Die Antwort: »Das sieht man doch nicht.« Damit beginnt und endet jede Unvorsichtigkeit. Das sieht man nicht, das hört man nicht, darauf achtet niemand. Das ist leicht gesagt, aber ob es der Wahrheit entspricht?
Die Streitereien haben sich zur Zeit etwas gelegt, nur Dussel hat noch Krach mit van Daans. Wenn er über Frau van Daan spricht, sagt er nur »die dumme Kuh« oder »das alte Kalb«, und sie wiederum betitelt den unfehlbaren studierten Herrn als »alte Jungfer« oder »alten Junggesellen, der sich ewig auf den Schlips getreten fühlt« und so weiter.
Der Topf wirft dem Kessel vor, dass er schwarz aussieht!
Deine Anne
Montagabend, 8. November 1943
Liebe Kitty!
Wenn du meinen Stapel Briefe hintereinander durchlesen könntest, würde dir sicher auffallen, in was für unterschiedlichen Stimmungen sie geschrieben sind. Ich finde es selbst schlimm, dass ich hier im Hinterhaus so sehr von Stimmungen abhängig bin. Übrigens nicht ich alleine, wir sind es alle. Wenn ich ein Buch lese, das mich beeindruckt, muss ich erst in
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