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Tagebuch (German Edition)

Tagebuch (German Edition)

Titel: Tagebuch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Frank
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1943
    Liebe Kitty!
    Kleiman ist wieder zurück, was für ein Glück! Er sieht noch ein bisschen blass aus, aber geht doch wohlgemut los, um für van Daan Kleidungsstücke zu verkaufen.
    Es ist sehr unangenehm, dass das Geld der van Daans radikal zu Ende ist. Seine letzten hundert Gulden hat er im Lager verloren, was uns auch Schwierigkeiten gemacht hat. Wie können an einem Montagmorgen hundert Gulden ins Lager geraten sein? Alles Anlässe für Argwohn. Inzwischen sind die hundert Gulden gestohlen worden.
    Wer ist der Dieb?
    Aber ich sprach über Geldmangel. Frau van Daan will von ihrem Stoß Mäntel, Kleider und Schuhen nichts missen, der Anzug von Herrn van Daan lässt sich schwer verkaufen, und Peters Fahrrad ist von der Besichtigung zurück, niemand wollte es haben. Das Ende vom Lied ist nicht in Sicht. Frau van Daan wird wohl doch ihren Pelzmantel hergeben müssen. Ihr Standpunkt, dass die Firma für unseren Unterhalt aufkommen muss, stimmt wohl nicht. Oben haben sie deswegen wieder einen Mordskrach hinter sich und sind in die Versöhnungsphase mit »Ach, lieber Putti« und »Süße Kerli« eingetreten.
    Mir ist ganz schwindlig von all den Schimpfworten, die im letzten Monat durch dieses ehrbare Haus geflogen sind. Vater geht mit zusammengepressten Lippen herum, und wenn jemand ihn anspricht, schaut er so erschrocken hoch, als hätte er Angst, wieder eine schwierige Aufgabe lösen zu müssen. Mutter hat vor Aufregung rote Flecken auf den Backen, Margot klagt über Kopfschmerzen, Dussel kann nicht schlafen, Frau van Daan jammert den ganzen Tag, und ich selbst bin ganz aus der Fassung. Ehrlich gesagt, ich vergesse ab und zu, mit wem wir Streit haben und mit wem die Versöhnung bereits stattgefunden hat.
    Das Einzige, was mich ablenkt, ist Lernen, und das tue ich viel.
    Deine Anne

Freitag, 29. Oktober 1943
    Liebste Kitty!
    Herr Kleiman ist wieder nicht da, sein Magen lässt ihm keine Ruhe. Er weiß selbst noch nicht, ob die Blutung schon aufgehört hat. Er war zum ersten Mal wirklich down, als er uns erzählt hat, dass er sich nicht gut fühle, und nach Hause ging.
    Hier gab es wieder laute Streitereien zwischen Herrn van Daan und seiner Frau. Das kam so: Ihr Geld ist alle. Sie wollten einen Wintermantel und einen Anzug von Herrn van Daan verkaufen, aber dafür war niemand zu finden. Er wollte einen viel zu hohen Preis dafür haben.
    Eines Tages, es ist schon eine Weile her, sprach Kleiman über einen befreundeten Kürschner. Dadurch kam Herr van Daan auf die Idee, den Pelzmantel seiner Frau zu verkaufen. Es ist ein Pelzmantel aus Kaninchenfell und siebzehn Jahre getragen. Frau van Daan bekam 325 Gulden dafür, das ist enorm viel. Frau van Daan wollte das Geld behalten, um dafür nach dem Krieg neue Kleider zu kaufen. Es war eine ganz schön harte Nuss, bis Herr van Daan ihr klargemacht hatte, dass das Geld dringend für den Haushalt benötigt wurde.
    Das Gekreische, Geweine, Gestampfe und Geschimpfe kannst du dir unmöglich vorstellen. Es war beängstigend. Meine Familie stand mit angehaltenem Atem unten an der Treppe, bereit, die Kämpfenden notfalls auseinander zu halten. All das Keifen, das Weinen und die Nervosität sind so aufregend und anstrengend, dass ich abends weinend ins Bett falle und dem Himmel danke, dass ich mal eine halbe Stunde für mich allein habe.
    Mir selbst geht es ganz gut, außer dass ich überhaupt keinen Appetit habe. Immer wieder höre ich: »Was siehst du aber schlecht aus!« Ich muss sagen, dass sie sich große Mühe geben, mich ein bisschen bei Kräften zu halten. Traubenzucker, Lebertran, Hefetabletten und Kalk sollen helfen. Meine Nerven gehen oft mit mir durch, vor allem sonntags fühle ich mich elend. Dann ist die Stimmung im Haus drückend, schläfrig und bleiern. Draußen hört man keinen Vogel singen, eine tödliche und bedrückende Stille liegt über allem. Diese Schwere hängt sich an mir fest, als würde sie mich in die Tiefe ziehen. Vater, Mutter und Margot lassen mich dann oft gleichgültig. Ich irre von einem Zimmer zum anderen, die Treppe hinunter und wieder hinauf, und habe ein Gefühl wie ein Singvogel, dem die Flügel mit harter Hand ausgerissen worden sind und der in vollkommener Dunkelheit gegen die Stäbe seines engen Käfigs fliegt. »Nach draußen, Luft und Lachen!«, schreit es in mir. Ich antworte nicht mal mehr, lege mich auf die Couch und schlafe, um die Zeit, die Stille und auch die schreckliche Angst abzukürzen, denn abzutöten sind sie nicht.
    Deine

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