Tagebuch (German Edition)
mir selbst gründlich Ordnung machen, bevor ich mich wieder unter die Leute begebe, sonst würden die anderen denken, ich wäre ein bisschen komisch im Kopf. Im Augenblick habe ich wieder eine Periode, in der ich niedergeschlagen bin, wie du wohl merken wirst. Ich kann dir wirklich nicht sagen, warum, aber ich glaube, dass es meine Feigheit ist, gegen die ich immer wieder stoße.
Heute Abend, als Bep noch hier war, klingelte es lang, laut und durchdringend. Ich wurde sofort weiß, bekam Bauchweh und Herzklopfen, und das alles vor Angst!
Abends im Bett sehe ich mich allein in einem Kerker, ohne Vater und Mutter. Manchmal irre ich auf der Straße herum, oder unser Hinterhaus steht in Brand, oder sie kommen uns nachts holen, und ich lege mich vor Verzweiflung unters Bett. Ich sehe alles so, als würde ich es am eigenen Leib erleben. Und dann noch das Gefühl, das alles könnte sofort passieren!
Miep sagt oft, dass sie uns beneidet, weil wir hier Ruhe haben. Das kann schon stimmen, aber an unsere Angst denkt sie sicher nicht.
Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass die Welt für uns je wieder normal wird. Ich spreche zwar über »nach dem Krieg«, aber dann ist es, als spräche ich über ein Luftschloss, etwas, das niemals Wirklichkeit werden kann.
Ich sehe uns acht im Hinterhaus, als wären wir ein Stück blauer Himmel, umringt von schwarzen, schwarzen Regenwolken. Das runde Fleckchen, auf dem wir stehen, ist noch sicher, aber die Wolken rücken immer näher, und der Ring, der uns von der nahenden Gefahr trennt, wird immer enger. Jetzt sind wir schon so dicht von Gefahr und Dunkelheit umgeben, dass wir in der verzweifelten Suche nach Rettung aneinander stoßen. Wir schauen alle nach unten, wo die Menschen gegeneinander kämpfen, wir schauen nach oben, wo es ruhig und schön ist, und wir sind abgeschnitten durch die düstere Masse, die uns nicht nach unten und nicht nach oben gehen lässt, sondern vor uns steht wie eine undurchdringliche Mauer, die uns zerschmettern will, aber noch nicht kann. Ich kann nichts anderes tun, als zu rufen und zu flehen: »O Ring, Ring, werde weiter und öffne dich für uns!«
Deine Anne
Donnerstag, 11. November 1943
Liebe Kitty!
Ich habe einen passenden Titel für dieses Kapitel:
Ode an meinen Füllhalter
»In memoriam«
Mein Füllhalter war mir immer ein kostbarer Besitz. Ich schätzte ihn sehr, vor allem wegen seiner dicken Feder, denn ich kann nur mit dicken Federn wirklich schön schreiben. Er hat ein sehr langes und interessantes Füllerleben geführt, von dem ich hier kurz erzählen möchte.
Als ich neun Jahre alt war, kam mein Füller in einem Päckchen (in Watte gewickelt) als »Muster ohne Wert« den ganzen Weg von Aachen, dem Wohnort meiner Großmutter, der gütigen Geberin. Ich lag mit Grippe im Bett, und der Februarwind heulte ums Haus. Der glorreiche Füller lag in einem roten Lederetui und wurde gleich am ersten Tag allen Freundinnen gezeigt. Ich, Anne Frank, die stolze Besitzerin eines Füllhalters!
Als ich zehn Jahre alt war, durfte der Füller mit in die Schule, und die Lehrerin erlaubte wahrhaftig, dass ich damit schrieb. Als ich elf war, musste mein Schatz jedoch wieder weggepackt werden, da die Lehrerin der sechsten Klasse nur Schulfedern und Tintenfass erlaubte. Als ich mit zwölf ins Jüdische Lyzeum ging, bekam mein Füller ein neues Etui, in das auch noch ein Bleistift passte und das außerdem viel echter aussah, weil es einen Reißverschluss hatte. Mit dreizehn ging der Füller mit mir ins Hinterhaus und begleitete mich durch zahllose Tagebücher und Hefte. Als ich vierzehn Jahre alt war, endete auch das letzte Jahr, das mein Füller mit mir verbrachte …
Es war am Freitagnachmittag nach fünf Uhr, dass ich aus meinem Zimmer kam und mich an den Tisch setzen wollte, um zu schreiben, als ich grob zur Seite geschoben wurde und für Margot und Vater Platz machen musste, die Latein übten. Der Füller blieb unbenutzt auf dem Tisch liegen, seine Besitzerin nahm seufzend mit einer kleinen Tischecke vorlieb und fing an, Bohnen zu reiben. »Bohnen reiben« bedeutet hier, verschimmelte braune Bohnen wieder sauber zu machen. Um Viertel vor sechs fegte ich den Boden und warf den Schmutz zusammen mit den schlechten Bohnen auf einer Zeitung in den Ofen. Eine gewaltige Flamme schlug heraus, und ich fand es großartig, dass sich das Feuer auf diese Art wieder erholt hatte.
Ruhe war wieder eingekehrt, die Lateiner abgezogen, und ich setzte mich an den
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