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Tagebuch (German Edition)

Tagebuch (German Edition)

Titel: Tagebuch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Frank
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dir mal vor, wie gelangweilt ich von den alten, immer wieder aufgewärmten Geschichten werde. Wenn es bei einem Tischgespräch nicht um Politik oder herrliche Mahlzeiten geht, nun, dann rücken Mutter oder Frau van Daan bloß wieder mit längst schon erzählten Geschichten aus ihrer Jugendzeit heraus. Oder Dussel schwafelt über den reichhaltigen Kleiderschrank seiner Frau, über schöne Rennpferde, lecke Ruderboote, von Jungen, die mit vier Jahren schwimmen können, von Muskelkater und von ängstlichen Patienten. Wenn einer von den acht seinen Mund aufmacht, können die anderen sieben seine angefangene Geschichte fertig machen. Die Pointe eines jeden Witzes wissen wir schon im Voraus, und der Erzähler lacht alleine darüber. Die diversen Milchmänner, Lebensmittelhändler und Metzger der Exhausfrauen sehen wir in unserer Einbildung schon mit einem Bart, so oft sind sie bei Tisch in den Himmel gehoben oder fertig gemacht worden. Es ist unmöglich, dass etwas noch jung und frisch ist, wenn es im Hinterhaus zur Sprache kommt.
    Das wäre ja noch zu ertragen, wenn die Erwachsenen nicht die Angewohnheit hätten, Geschichten, die Kleiman, Jan oder Miep zum Besten geben, zehnmal nachzuerzählen und sie jedes Mal mit eigenen Erfindungen auszuschmücken, sodass ich mich oft unterm Tisch in den Arm kneifen muss, damit ich dem begeisterten Erzähler nicht den richtigen Weg zeige. Kleine Kinder wie Anne dürfen Erwachsene unter keinen Umständen verbessern, egal, welche Schnitzer sie auch machen oder welche Unwahrheiten oder Erfindungen sie sich aus den Fingern saugen.
    Ein Thema, über das Kleiman und Jan oft reden, ist Verstecken oder Untertauchen. Sie wissen, dass wir ebenso mitleiden, wenn Versteckte gefangen werden, wie wir uns mitfreuen, wenn Gefangene befreit werden.
    Untertauchen und Verstecken sind jetzt so normale Begriffe wie früher Papas Pantoffeln, die vor dem Ofen stehen mussten. Es gibt viele Organisationen wie »Freie Niederlande«. Sie fälschen Personalausweise, geben Untergetauchten Geld, treiben Verstecke auf, beschaffen untergetauchten christlichen jungen Männern Arbeit, und es ist erstaunlich, wie oft, wie nobel und wie uneigennützig diese Arbeit verrichtet wird und wie die Leute unter Einsatz ihres Lebens anderen helfen und andere retten.
    Das beste Beispiel dafür sind doch wohl unsere Helfer, die uns bis jetzt durchgebracht haben und uns hoffentlich noch ans sichere Ufer bringen. Sonst müssten sie das Schicksal all derer teilen, die gesucht werden. Nie haben wir von ihnen ein Wort gehört, das auf die Last hinweist, die wir doch sicher für sie sind. Niemals klagt einer, dass wir ihnen zu viel Mühe machen. Jeden Tag kommen sie herauf, sprechen mit den Herren über Geschäft und Politik, mit den Damen über Essen und die Beschwerden der Kriegszeit, mit den Kindern über Bücher und Zeitungen. Sie machen, soweit es geht, ein fröhliches Gesicht, bringen Blumen und Geschenke zu Geburts- und Festtagen, stehen immer und überall für uns bereit. Das ist etwas, was wir nie vergessen dürfen. Andere zeigen Heldenmut im Krieg oder gegenüber den Deutschen, aber unsere Helfer beweisen ihren Heldenmut in ihrer Fröhlichkeit und Liebe.

    Die verrücktesten Geschichten machen die Runde, und die meisten sind wirklich passiert. Kleiman erzählte zum Beispiel diese Woche, dass in Gelderland zwei Fußballmannschaften gegeneinander gespielt haben. Die eine bestand ausschließlich aus Untergetauchten, die zweite aus Feldjägern. In Hilversum werden neue Stammkarten ausgeteilt. Damit die vielen Versteckten auch welche bekommen (Lebensmittelkarten sind ausschließlich auf Stammkarten oder für 60 Gulden je Stück erhältlich), haben Beamte der Zuteilungsstelle alle Untergetauchten aus der Umgebung zu einer bestimmten Zeit bestellt, um ihre Ausweise abzuholen.
    Man muss aber sehr vorsichtig sein, dass solche Kunststückchen den Moffen nicht zu Ohren kommen.
    Deine Anne

Sonntag, 30. Januar 1944
    Liebste Kit!
    Wir sind wieder an einem Sonntag angelangt. Ich finde Sonntage zwar nicht mehr so schlimm wie früher, aber immer noch langweilig genug.
    Im Lager bin ich noch nicht gewesen, vielleicht klappt es später. Gestern bin ich ganz allein im Dunkeln hinuntergegangen. Ich stand oben an der Treppe, deutsche Flugzeuge flogen hin und her, und ich wusste, dass ich ein Mensch-für-sich-selbst bin, der nicht mit der Hilfe anderer rechnen darf. Meine Angst war verschwunden. Ich sah hinauf zum Himmel und vertraute auf

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