Tagebücher 01 - Literat und Europäer
44er-Straßenbahn vor der Elisabethbrücke eigentlich stören muss. Ich denke darüber allen Ernstes nach, erst im Nachhinein schießt mir durch den Kopf, um was es hier eigentlich geht …
Vor einem Laden, dessen leeres Schaufenster von einer Bombe eingedrückt und dessen Firmenschild durch den Luftdruck abgerissen wurde, stehen Menschen geduldig Schlange. Ich spreche eine Frau an: »Worauf warten Sie? …« »Ich weiß nicht«, erwidert sie. »Man verteilt irgendetwas.«
Budapest, diese sarkastische, sentimentale, klatschsüchtige, unseriöse Stadt, wirkt nun ruhig und seriös. Alles, was jetzt geschieht, spielt sich auf schicksalsträchtige Weise ab. Die Stadt ist erwachsen geworden, hat zu schweigen und zu warten gelernt. Sie wartet auf etwas Ernstes, Entscheidendes; wie der Mensch auf den Tod.
Mir fällt Michelets berühmter Satz über die Ungarn in die Hände: »La nation hongroise est l’aristocratie de l’héroïsme, de la grandeur morale et de la dignité.«
Ich lese den Satz noch einmal Buchstabe für Buchstabe, mit dem Genuss eines Gourmets. Mich amüsiert vor allem die Herrlichkeit der »grandeur morale«. Davon kann keine Rede sein: Die ungarische Gesellschaft wurde in den letzten Monaten gerade im Fach Moral geprüft.
Ein Tag mit Herzrhythmusstörungen, Schwindelanfällen. Nikotin … und der Rest.
In gefährlichen Zeiten wie heute, da jeder Tag für alle immer neue, unberechenbare, tödliche Gefahren mit sich bringt, reagieren die Menschen mit überraschenden Reflexen auf die Hornsignale der Gefahr. Frauen bringen Opfer, büßen, indem sie geloben, auf Zigaretten oder die Liebe zu verzichten und so weiter. Viele Männer lassen sich in spontaner Hysterie die Haare lang wachsen: einen Bart oder einen Schnurrbart oder beides zugleich. Diese Notbehaarung beobachte ich bei vielen Bekannten in diesen Tagen. Als wollten sie ihre Persönlichkeit hinter einer Maske verbergen; wie Negermütter, wenn sie ihrem kranken Kind einen neuen Namen geben, damit der Geist der Krankheit es nicht findet.
Totaler Terror, totale Panik. Nach dem Durchbruch der Russen nach Transdanubien bleibt den Deutschen und Pfeilkreuzlern kaum eine Rückzugsmöglichkeit : nur die Straße nach Wien und zwei Straßen entlang des Plattensees. Diese Straßen sind überfüllt. Die studentische Jugend wird heute nach Halle evakuiert . Viele Studentinnen und Studenten sind auf der Flucht. Überhaupt sind alle auf der Flucht, vor echten und eingebildeten Gefahren.
Tage, an denen jeder Atemzug gefährlich ist, ob man sich versteckt hält oder sich zeigt. Die fliehende Horde tobt, plündert und mordet. Sie plündern schamlos, sie haben Ausreden gar nicht mehr nötig.
Ich lese Shakespeare auf Deutsch – eine zweisprachige Ausgabe; Das Wintermärchen und Ein Sommernachtstraum ; und Hamlet ; und Das unerfahrene Gespenst , eine humoristische Schrift von Wells ; und, da ich gerade nichts anderes zur Hand habe, Herczegs Brigadier Ocskay ; dieses talentierte, aber herausgeputzte Stück Patriotismus in Ledereinband.
Budapest ist von drei Seiten umzingelt . Ich fahre im Morgengrauen mit dem letzten Schiff in die Stadt. Ein Oberst der sogenannten Flussstreitkräfte will noch im letzten Augenblick vor der Belagerung meine Wohnung requirieren. Er schickt einen Unteroffizier mit der genauen Adresse, hat vermutlich aufgrund einer Denunziation ausfindig gemacht, dass die Wohnung unbewohnt ist. Ich kann ihm nicht verraten, warum sie unbewohnt ist. Hilflos streife ich durch die Nebengassen, gerate überall in Razzien hinein. Ich passiere zwei Razzien problemlos, mache eine Handbewegung, dass sie mich gehen lassen. Der Polizist und der Gendarm salutieren und lassen mich wortlos durch. Mir wird allmählich klar, dass sich sicheres Auftreten und natürliche Gelassenheit auch in den größten Krisen bewähren. Erst durch Feigheit oder Widerstand wird Aggression provoziert. Gelassenheit lässt sie zurückweichen, ab und zu jedenfalls.
In den Seitengassen ergreifende Begegnungen. Wildfremde Menschen treten an mich heran, drücken mir wortlos die Hand oder bieten mir mit wenigen Worten ihre Wohnung an, falls ich eine benötige. In der Stadt geht das Gerücht, ich sei verhaftet worden. In Wirklichkeit wurden nur wenige Künstler und Schriftsteller in den letzten Tagen verhaftet; aber das Gerücht hält sich hartnäckig, dass alle halbwegs bekannten Intellektuellen unter irgendeinem Vorwand nach Deutschland deportiert werden sollen. Man hat auch schon einen
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