Tagebücher 01 - Literat und Europäer
geheizt werden, das Gas entzündet sich nicht, die Restaurants können nicht einmal mehr das Kriegsmenü kochen; und doch lebt das Ganze, atmet der große Körper. Die Menschen eilen seelenruhig über die verminten Brücken. Ein paar Theater sind in Betrieb.
Man wird eilig beteuern, wie viel man gelitten hat und wie unschuldig man ist und wie vielen Opfern man geholfen hat! Und in der Tat, viele haben viel gelitten, und viele haben auch geholfen. Aber die Wahrheit ist, jeder, der in den letzten fünfundzwanzig Jahren hier lebte, hat sich mehr oder weniger kompromittiert, jeder ist ein wenig schuldig, während er auch Opfer ist. Wie kläglich dieses wimmernde »Sammeln von Pluspunkten« ist, die geflüsterten Beteuerungen: Ich habe doch, bitte schön, zwei Juden gerettet, einem Flüchtling Unterkunft gewährt, den Eid auf Szálasi und die Seinen nicht geleistet und so weiter! Darum geht es nicht, meine Herrschaften. Es geht darum, dass diese Gesellschaft fünfundzwanzig Jahre lang die Kultur verweigert hat. Alles andere ist eine Folgeerscheinung. Die Wahrheit ist, dass wir in dieser Zeit alle gelitten, aber auch alle Schuld auf uns geladen haben.
Ich sitze im Mondschein am Donaukai, warte auf das abendliche Schiff. Die dämmerige Stadt im nebligen, unheilvollen Licht ist zauberhaft, beängstigend schön: die Silhouette der zertrümmerten Margaretenbrücke wie der Kadaver eines verwundet in die Knie gegangenen schrecklichen prähistorischen Tieres; und gegenüber, bei Nebel und silbriger Beleuchtung, die Kuppel des Parlaments! Jetzt ist Budapest groß und wahrhaftig, wie alles, dessen Schicksal sich erfüllt hat.
Man hat ein Haus mit gelbem Stern geräumt, die jüdischen Bewohner verschleppt. Pfeilkreuzler beziehen mit ihren Familien die Wohnungen des Hauses, tauschen die zurückgelassenen Möbel, Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände nach Belieben untereinander aus. Was überflüssig ist, werfen sie in die Abfalltonne vor dem Haus. So auch die meisten Bücher. Ein Bekannter von mir zog heute Vormittag eine ungarische Ausgabe von Sokrates’ Verteidigungsrede aus der Abfalltonne; und noch zwanzig andere »überflüssige« Bücher.
Wir sind so tief gefallen: sehen über den Rand der Grube gar nicht mehr hinweg. Das einzige Licht, das am Horizont unseres Lebens noch flackert, ist jener rötliche Schimmer, den der Krieg auf die Felder ringsum wirft.
Sie plündern überlegt, die Pfeilkreuzler und die Deutschen; planmäßig, fachgerecht. Die Russen sind in Csepel , aber die nazistischen Räuberkommandos ziehen planmäßig von Wohnung zu Wohnung, von Laden zu Laden. Dieses ernsthafte, planmäßige, offizielle Plündern ist vielleicht noch beängstigender als das kopflose Marodieren einer revoltierenden Masse.
Ich werde nur mein Leben retten können, so viel ist klar; wenn ich alles überlebe, was noch kommt, besitze ich nichts mehr – keine Wohnung, keinen Arbeitsplatz, nichts – und werde ganz von vorne beginnen müssen.
Ich habe mich damit innerlich abgefunden. Es ist nicht leicht. Ich friste mein fünfundvierzigstes Lebensjahr; andere fahren in diesem Alter allmählich die Ernte ein. Ich kann jetzt mit dem Pflügen und Säen beginnen, wenn ich noch Lust und Kraft dazu habe.
Aber was am schwersten zu ertragen ist: Ich habe den Glauben an die menschliche Substanz, die sich Nation nennt, verloren; ich habe den Glauben daran verloren, wie auch immer sie etikettiert und verpackt wird.
Dieser Mensch hat sich in den letzten Wochen folgende Dokumente besorgt: seine Entlassungspapiere sowie eine zweite Bescheinigung, dass er jeden zweiten Tag im Felsenbunker Luftschutzdienst verrichtet, eine sanitätsärztliche Bescheinigung, dass er arbeitsunfähig ist; einen Schutzbrief des Internationalen Roten Kreuzes und einen Schweizer Schutzpass für seine Wohnung.
Es ist gut möglich, dass er eines Abends, wenn er mit den Dokumenten in der Tasche nach Hause geht, an irgendeiner Straßenecke erschlagen wird.
Früher Wintermorgen in einer Kleinstadt. Ich sitze an der Torschwelle eines Hauses. Überall Wagen der Nachschubkolonne, herumlungernde Rekruten. Nahes Geschützfeuer, das ist schon die Front. Der Bäcker wirft Dutzende Brotlaibe auf die Wagen vom Nachschubtross, der Metzger reicht ganze Kälber hinauf.
Ein gut gelauntes Getümmel. Die Frontlinie verläuft hier, ganz nah, in ein paar Stunden werden diese im winterlichen Licht verharrenden Menschen und Wagen an der Front sein. Allseits Gelächter. Sie werfen den Frauen
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