Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Fanatismus krächzend Speichel ins Gesicht spuckt.
Eine Morgenzeitung berichtet über die »Heldentaten« ungarischer Feldgeistlicher: wie sie beim Sturmlauf das Kreuz wegwarfen, zur Handgranate und Maschinenpistole griffen und auf die Bolschewiki zu feuern begannen und so weiter.
Das sind natürlich nur Folgeerscheinungen. Schon als die erste Bildreportage vor fünf Jahren katholische Bischöfe beim Segnen der Panzer zeigte, war klar, dass an den Frontlinien des neuen Krieges nicht nur viele Menschen, sondern auch eine Idee fallen würden.
Schweigen und wieder schweigen. Lerne vom heiligen Benedikt. Immer tiefer, tauber, hartnäckiger schweigen.
In meiner Wohnung in Budapest, in einem eisigen Zimmer, dessen Fenster von den Maschinenpistolen der Gestapo durchlöchert wurden, überkommt mich ein fast feierliches Lebensgefühl: die Geborgenheit der Zivilisation. Das ist nur eine Illusion, denn nichts ist zerbrechlicher als ebendiese Zivilisation: In Csepel dröhnen die Kanonen, in der Wohnung klirren die zerbrochenen Fensterscheiben. Ich lasse mir ein Bad einlaufen (schon seit Wochen wasche ich mich am Brunnen) und lebe ein paar Tage wie in der längst verblassten Vergangenheit. Ich gehe in Stadtkleidern durch die Straßen, speise im Restaurant, lese bei Lampenschein.
In der Stadt wird Tag und Nacht geplündert; Pfeilkreuzler-Schergen ziehen von Wohnung zu Wohnung, nehmen Geiseln, verhaften Menschen aufgrund einer einfachen Denunziation und rauben ihre Wohnungen, ihre Läden aus. Es gibt in Budapest nichts mehr zu kaufen; die Stadt wird sehr lange, vielleicht jahrelang ohne Waren bleiben; ein Paar Socken wird eine Sensation sein. Die Plünderungen gehen vorschriftsmäßig, gründlich und begeistert vor sich. Kommandos mit trübsinnigen Gesichtern patrouillieren beim Geschützfeuer der Russen in den Straßen und halten Ausschau, wo es noch etwas zu holen gibt. Menschen verschwinden wie zur Zeit großer Epidemien. Alles sehr eintönig. Zehntausende Juden werden deportiert, fast beiläufig erzählen mir Bekannte nach der Begrüßung, dass Mutter, Vater, Sohn oder Schwager den Schindern in die Hände gefallen sei. Ich begreife die Frauen von Paris, die während der großen Revolution im Schatten der Guillotine an der Place de Grève fleißig häkelten. Die Zeitgenossen werden der Massentragödien schnell überdrüssig, selbst die, die Opfer dieser Tragödien sind. Niemand weiß, wann er als Geisel, als politischer Gefangener oder schlicht weil er in seinem Beruf eine etwas bedeutendere Rolle spielt, verschleppt wird – die Deutschen und die Pfeilkreuzler wollen jene paar Tausend Menschen, die hier etwas zählen, auflesen, damit das Land nach ihrem Weggang führungslos bleibt. Und sie haben ihre Opfer schon fast beisammen. Alle sind ermattet. Noch vor acht Monaten gerieten wir bei einer Hiobsbotschaft in Aufruhr, wie ein junger Soldat, wenn eine Kugel an seinem Kopf vorbeipfeift. Inzwischen sind wir abgestumpft. Gestern wurde ein Verwandter getötet, heute ein Freund verschleppt. Bei solchen Nachrichten nickt man nur noch, erkundigt sich mit höflicher und mechanischer Teilnahme und wechselt schnell, beschämt das Thema.
Mein alter Barbier rasiert mich, während die Geschütze dröhnen, und bedauert, dass er mich nicht wie früher mit Colgate-Seife einseifen kann!
Es ist wie bei einem Sturm; das ist es auch, ein Sturm. Und all das, während die Russen schon in den Vorstädten stehen. Und die ungarischen Nazis schwingen noch immer große Reden, plündern, drohen. Sie wollen alle Männer abführen. Ich habe in letzter Zeit keinen getroffen, der nicht irgendwie »illegal«, außerhalb der Gesetze lebte. Die Polizei, die Sanitätsärzte sind außerordentlich anständig; sie helfen allen. Der Riss geht durch die ganze Nation: Auf der einen Seite die Pfeilkreuzler, auf der anderen die ganze ungarische Gesellschaft, Arbeiter, Sozialisten, Kommunisten, Legitimisten, die bürgerlichen Parteien, Juden, Christen, sie stehen alle auf der anderen Seite, dem Abschaum gegenüber.
Trotz dieser völligen Zerrüttung – ich habe zwei Revolutionen erlebt, den Spartakusaufstand in Berlin und das kommunistische Experiment in Ungarn 1919, aber verglichen mit dem, was sich heute abspielt, waren beide nur kindliche Spektakel! – herrscht in der Stadt noch immer irgendeine mechanische Ordnung. Auf diesem gefährlichen Terrain rattern Straßenbahnen, gehen Menschen ihren Geschäften nach. Waren, Lebensmittel gibt es nicht, es kann nicht
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