Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Regierungskommissar bestimmt, der dieses »Komitee für die Umsiedlung der Wissenschaftler und Geistesschaffenden nach Deutschland« leiten soll, einen Pfeilkreuzler-Historiker; denn auch das gibt es. Ich schlafe zu Hause, kann mich nicht ernsthaft mit solchen Hiobsbotschaften befassen; das Chaos ist schon zu groß, als dass sie noch einzelne Personen aufstöbern könnten.
Ich besorge mir Wein aus dem Weinkeller eines Bekannten, fünfundzwanzig Flaschen. (Erst vor Tagen wurden in Eger zwanzig Hektoliter meines Weins vernichtet, die einzige Wertsache, deren Verlust ich bedauere. Es war ein köstlicher Tropfen!) Am Morgen erfahre ich: Die Russen sind aus Richtung Hatvan zur Donau durchgebrochen und haben in der Nacht Vác erobert . Ich erkundige mich und bringe in Erfahrung, dass auf der Donau keine Schiffe mehr verkehren. Die Gefahr ist groß, dass ich in Budapest feststecke. Ich breche frühmorgens auf, in der Hoffnung, doch noch nach Leányfalu zu gelangen. In Wirklichkeit kommt es immer anders: Vác ist tatsächlich gefallen, aber die Schnellbahn verkehrt noch; in Szentendre nimmt mich ein Bauer auf seinem Wagen mit, ich komme am Vormittag an. Zu Hause ist alles in Ordnung, sie haben nachts vom Fenster aus die Belagerung von Vác verfolgt. (Vác ist vier Kilometer Luftlinie von unserem Haus entfernt.)
Es ist der Anfang der viertägigen Schlacht, die noch jetzt andauert: die Schlacht, die die russischen Truppen von Vác nach Újpest führen wird. Ich beobachte alles, Tag und Nacht, aus zwei, drei Kilometern Entfernung, vom Fenster oder vom Gartentor aus. Pausenloses Geschützfeuer und Luftangriffe, das Mündungsfeuer der Kanonen erhellt die Nacht. Auch in unserer unmittelbaren Nähe schlagen Bomben und Minen, Raketen der Stalinorgeln ein. Einen Luftschutzkeller haben wir nicht, nur den baufälligen Vorratskeller. Jeder schläft in seinem eigenen Bett, das Haus bebt Tag und Nacht; die ganze Melodramatik dieses Krieges ist nun auch für uns Wirklichkeit geworden. Was in den offiziellen Verlautbarungen, im offiziellen Kriegsjargon, so klingt: »Die Luftwaffe hat sich trotz schlechter Witterung erfolgreich in die Bodenkämpfe eingeschaltet« oder so: »Unseren Truppen gelang es, die feindlichen Streitkräfte nach einem minimalen Bodengewinn aufzuhalten« oder so: »Wir haben den Ort Alsó-Göd nach heftigen Gefechten aufgegeben, um uns auf eine günstigere Verteidigungslinie zurückzuziehen« , wütet nun als Wirklichkeit vor unseren Augen.
Wer das nicht selbst erlebt hat, weiß nicht, was Krieg bedeutet. Nachts schlägt eine Luftmine so nah ein, dass alles zu wackeln beginnt, das Haus, das Zimmer, das Bett, in dem ich liege. Und doch kann man sich an all das gewöhnen. Auch jetzt, während ich dies schreibe, bebt die Erde: Diesmal wird zwischen Szentendre, Szigetmonostor und Dunakeszi gekämpft. Und während die Gefechte draußen andauern, höre ich in der offiziellen Berichterstattung aus Moskau und England, dass die Kämpfe, deren Augenzeuge ich gerade bin, die heftigsten an der ganzen Ostfront sind.
Es wäre klüger, zurück nach Budapest zu gehen und alles, Gepäck, Haus, Einrichtung, hier zu lassen; denn Fuhrwerke gibt es nicht mehr, die Straße von Szentendre wird beschossen. Obwohl auch Buda und Pest unter Beschuss von Granaten sind; die Chancen stehen also gleich. Aber vielleicht ist Budapest sicherer dank der Luftschutzkeller, es wäre zudem zweckmäßiger, die Übergangszeit in einer Großstadt durchzustehen. Aber ich kann nicht mit einer Frau und einem Kind, die sich beide verkrochen haben, auf einer unter Kanonenbeschuss liegenden Landstraße aufbrechen; und so lese ich lieber Emersons Essay über den Charakter und bleibe, wo ich bin. Man kann Pläne nur noch von einer halben Stunde auf die andere machen.
Aber immer und überall, immer inniger und greifbarer spürbar: Gottes Absicht und Vorsehung. Ich entscheide und handle, so oder anders. Aber im letzten Moment nimmt mich Gott an die Hand und sagt: »Nicht so, anders.« Und ich sehe jedes Mal ein, dass es nur so richtig war.
Im Keller lagert Wein, der Wein von R . ; ich habe ihn bislang verwahrt; die Obrigkeit will ihn nun abholen lassen, man befürchtet, der Wein könnte die deutschen Besatzer oder später die russischen Soldaten erregen und enthemmen. Sie reden von dem Wein wie von Dynamit.
Emerson hat recht: Damit in der Welt etwas Wesentliches geschieht, genügt nicht ein Mensch, der die Wirklichkeit rational erfasst und entsprechend
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