Tagebücher 01 - Literat und Europäer
leidenschaftslos, mit hölzerner Stimme. Ihr Jargon hat keinen Esprit, ihre Worte ähneln den leeren, schmuddeligen Zwischenrufen auf Fußballplätzen.
Woran glauben sie? An nichts, stelle ich erstaunt fest. Sie wollen gut leben und wünschen sich gleich von Anfang an eine Rente. Sie lesen viel; aber kaum ein Buch kann sie beeinflussen.
Der erste Schnee. In einer Woche Weihnachten . Weißer Frieden senkt sich über den Hof, den Garten, das Flussufer, die Insel.
Inmitten dieses weißen Friedens brüllt und röchelt die Kriegsmaschinerie. Die Phonetik dieses neuen Krieges klingt, als habe sich die Welt in eine fauchende, knatternde Maschinenfabrik verwandelt: Um acht Uhr früh beginnt die Arbeit, der Betrieb dröhnt pausenlos bis abends um sechs, dann wird – nach einer kurzen Pause – die Tagschicht von der Nachtschicht abgelöst.
In den Straßen Budapests blutige Fleischfetzen, mit Packpapier eilig abgedeckte Leichen. Die Bomben fallen unerwartet, ohne Vorwarnung. Der Budapester Sender ist schon seit Tagen nicht mehr zu empfangen, er knistert und kracht nur.
Ich lese Ribbecks Buch über die Geschichte der römischen Dichtung. Gergely Csikys Übersetzung ist gründlich und hat Würze.
Ich bin auf alles gefasst; nicht nur auf den Tod; auch auf anderes und auf mehr, auf alles.
Noch nie hat eine Nation das Schicksal so provoziert, so frivol herausgefordert wie die ungarische in den letzten Jahren.
Wer jetzt noch immer nicht mit allem abgerechnet hat, ist ein Kind. Man muss alles, aber auch alles als Erinnerung betrachten: das Zuhause, die Heimat, Budapest, Europa, die Arbeit, das Leben selbst. Jeder Tag – nein: – jede Minute ist ein Geschenk. Es weht ein eisiger Wind, in einer Woche ist Weihnachten. Setz dich in deiner geflickten Hose oder auch mit nacktem Hintern auf die gefrorene Erde. Ja, nun bist du endlich zu Hause angekommen. Das bist du, das ist deine Lage in der Welt, das ist alles, was du bist.
Mir hat nie jemand geholfen. Auch die Frauen nicht. Nie jemand. Das hat etwas Gutes und Beruhigendes: Ich schulde keinem etwas.
Friedlicher, verschneiter Goldener Sonntag, mit vereinzeltem Geschützfeuer aus Richtung Göd.
Diese frührömische Literatur, die Ribbecks Buch so ausführlich und langweilig beschreibt, konnte lange Zeit nicht aus eigener Kraft entflammen. Selbst Plautus, das erste große original lateinische Talent, schöpfte noch aus dem griechischen Erlebnis, selbst Horaz destillierte noch seine Lyrik aus dem weisen Gleichmut der Stoiker. Der erste wirklich bedeutende lateinische Dichter war Dante. Ein Volk von Barbaren erholt sich nur langsam von der Begegnung mit einer lebendigen Kultur. Es braucht ein Jahrtausend, bis es die Überraschung der Begegnung verdaut hat und zu seinem eigenen Erlebnis findet.
Die lateinischen und griechischen Haus- und Waldgötter, die penates und lares und der zornige marmar : Leben sie noch in unseren Häusern und Wäldern? Menschen verehren Bäume noch heute abergläubisch wie Gottheiten; sie »klopfen« den Baum »ab«, wenn sie eine gute oder schlechte Nachricht hören. Sie vermuten irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Baum und dem Schicksal; als wohnte in den Bäumen noch heute irgendeine Gottheit. Auch tief in mir, in den tiefen Gewässern meines Verstands, lauert und flimmert dieser abergläubische Verdacht.
Sie bleiben bereits alle weg, die Menschen wie die Erinnerungen. Nur die Trauer, dieser Engel der Düsternis, besucht mich noch ab und zu, in der morgendlichen Dämmerung. Alles andere ist Gleichgültigkeit.
Der feine Pendelschlag in mir, der das Gleichgewicht meines Lebens anzeigt, tendiert jetzt eher zum Tod als zum Leben.
Wenn ich mich nicht innerhalb kürzester Zeit – ein paar Tage sind das Maximum! – zur Arbeit durchringen kann, gehe ich zugrunde. Geschützfeuer, Räuber, Mörder, all das gehört zum Leben. Aber wenn ich nicht arbeiten kann, muss ich sterben. Ich lebe in der Feuerlinie, drei Kilometer vor meinem Fenster am gegenüberliegenden Donauufer spielen sich wilde Materialschlachten ab. Ein Grund mehr, Die Schwester und Die Beleidigten zu beenden.
Vorweihnachtliche Tage in Budapest.
Niemand kümmert sich mehr um den Luftalarm; selbst während eines »Großalarms« gehen die Leute auf der Straße ruhig ihren Geschäften nach. Was haben sie noch für Geschäfte? … Sie hetzen hin und her, um sich Ausweise und entlastende Bescheinigungen zu besorgen. Es spricht sich herum, dass es irgendwo Pilze, Weißkohl, Kohlrabi gäbe.
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