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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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lange Blicke zu, betteln sie um Zigaretten an. Jetzt begreife ich jene Passage in Krieg und Frieden , als der junge Graf Rostow am Morgen vor der Schlacht eine glückliche, feierliche Vorfreude empfindet.
    Und dann ertrinkt alles in Schlamm und Blut.
    Ich habe seit Tagen nichts mehr gelesen. Das ist die echte Sabotage, die einzige Arbeitsverweigerung, durch die man wirklich schuldig wird.
    Krúdys Sindbad ist eines der reinsten Meisterwerke der Weltliteratur. Könnte Krúdy schreiben, wenn er heute lebte, selbst wenn man ihn ließe? Er könnte es nicht. Ein Schriftsteller kann über sein intimstes Geheimnis, den innersten Sinn seines Daseins nur dann berichten, wenn die Zeit und die Welt, in der er lebt, nach diesem Geheimnis rufen. Ohne Licht und Luft kann man nicht sprechen.
    Was würde Krúdy heute tun? Er würde leise vor sich hin brummen. Durch die kleinen Hintereingänge die Kneipen von Óbuda frequentieren. Geld bekommen … ja, von wem eigentlich? Das wäre ihm egal. Sein Sohn, den ich kürzlich traf, sagte: »Wenn Papa noch lebte, er hätte längst einen Judenpass.«
    Budapest ist seit einigen Tagen »Frontstadt«, wie es in den deutschen Kriegsberichten heißt: Tag und Nacht mischt sich Geschützdonner in den Lärm der Stadt, an den Straßen eingegrabene Kanonen, Stacheldrahtbarrikaden, Panzerfallen. An den Auffahrten zu den Brücken ragen gewaltige Kanonenrohre empor. In den Gräben der aufgerissenen Fahrbahnen lauern Maschinengewehrschützen.
    Wie ist in diesen Tagen das Leben in Budapest, der »Frontstadt«? Die Lebensumstände sind natürlich anders, als ich sie mir je erträumt hätte. Dieses »Alles-ist-anders« ist das einzige Gesetz, das in jeder Lebenslage gilt. Budapest lebt auch inmitten von Geschützdonner, Panzerfallen und Nestern von Maschinengewehrschützen verhältnismäßig ruhig. Die Menschen sitzen in den Kaffeehäusern bei Ersatzkaffee oder künstlichem Tee – der ohne Zucker, Rum oder Marmelade serviert wird –, verhandeln Sachen und schwatzen. In den Restaurants bekommt man noch immer akzeptable Speisen, vor allem, wenn man rechtzeitig da ist. An den Straßenbahnen hängen auch nicht mehr Menschen als vor zwei Monaten, da die Front noch weit weg war. Die Theater und Kinos sind in Betrieb, die Zeitungen berichten, dass diese oder jene Schauspielerin ihre Rolle abgelehnt und zurückgegeben hat. Auch Bücher erscheinen, weiß der Himmel, was für Bücher? – aber sie erscheinen, ja, der Verlag wirbt auf Plakaten, dass das spannende Werk von Herrn X endlich das Licht der Welt erblickt hat. Auf den verminten Brücken drängelt sich das Volk.
    Ich begebe mich zwischen spanischen Reitern und Stacheldrahtbarrikaden zum Mittagessen ins Hotel Gellért. Vor einigen Tagen hat die Bombe eines Störflugzeugs das Lokal zerstört; mehrere Gäste starben, Messer und Gabel in der Hand. Die Trümmer wurden beseitigt, von den Toten spricht niemand mehr; oben im festlichen Speisesaal deckt man auf makellosen Leinentischtüchern, hervorragend ausgebildete Kellner servieren lautlos schmackhaft zubereitete, gar nicht teure Speisen auf Silbertabletts. Ich speise für zwölf Pengő in Scheinen, bei Lampenlicht, in einer an die Friedenszeit erinnernden Umgebung, an den Tischen sitzen gut gekleidete Menschen, die Hemdbrüste der Kellner sind blendend weiß, durch das Fenster sehe ich die große Flugabwehrkanone, die die Brücke und den Hoteleingang schützt, und einige Stacheldrahtverhaue, die im Falle eines Nahkampfes den Gellértberg verteidigen sollen. Dann nähert sich eine Gruppe auf der Straße: Ältere und jüngere Frauen mit Kopftüchern, Kinder; es sind Juden, sie werden zu den Deportationsstellen getrieben. Zwei bewaffnete Polizisten geleiten die Gruppe. In dem schönen, lauen, von elektrischem Licht erleuchteten Saal unterhalten sich alle leise, niemand macht eine Bemerkung. An einem Tisch plaudern gemütlich Offiziere in Paradeuniform, mit Orden – es ist allzu offensichtlich, dass sie nicht von der nahen, kaum zwanzig Kilometer entfernten, immer wieder aufblitzenden Front, sondern von irgendeiner Pfeilkreuzler-Feier kommen.
    Von dort begebe ich mich zu Juden, die sich versteckt halten. Sie sind natürlich nicht gewillt, einen weiteren sich versteckt haltenden, aber obdachlosen Juden aufzunehmen, denn sie machen sich Sorgen um ihre Sicherheit. Ich gehe zwischen Geschützen und Maschinengewehren zu Fuß nach Hause und denke darüber nach, dass die Flugabwehrkanone den geregelten Verkehr der

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