Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Krankheit, Weltkrieg –, alles ist zu wenig, wenn die Pflicht der Arbeit ruft. Proust ist das Vorbild und mit ihm alle anderen.
In der Nacht nach der ärztlichen Untersuchung erkranke ich an »Grippe«. Sie bricht anfallartig aus, wie eine akute Vergiftung. Um vier Uhr nachts erwache ich mit Schüttelfrost und 38,6° Fieber. Um sechs Uhr früh ist das Fieber gleich hoch; Unwohlsein, Schwindelgefühle, Schüttelfrost, Ohnmachtsanfälle. Um sieben Uhr kommt G. vorbei , untersucht mich; er gibt mir Zäpfchen und macht mir einen feuchten Brustwickel; wenn bis zum Abend keine Lungenentzündung ausbricht und ich danach vier, fünf Tage geduldig das Bett hüte, könnte ich den ersten Anfall abwehren, sagt er. Es grassiere seit einer Woche eine Epidemie in der Stadt, doch Komplikationen habe es bis jetzt kaum gegeben. Sie trete wie eine Vergiftung auf, und das sei sie auch: eine Virusinfektion. Sie begänne dramatisch, man nenne sie »englische« oder auch »schwedische« oder »ukrainische« Grippe.
Beim Ohrenarzt. Das Ohrensausen kann eine Folge von Polyneuritis sein; leise gesprochene einzelne Wörter kann ich nur schlecht hören. Das ist ziemlich beunruhigend. Bleib geduldig, fürchte dich nicht, bleib demütig und gläubig; alles hat einen Sinn.
Ich nutze die Zeit der Krankheit für die nötigen Streichungen im Zauber . Eine anstrengende Arbeit. Ich muss etwa ein Drittel des gesamten Manuskripts (140 Seiten) löschen, damit das Stück räumlich und zeitlich auf die Bühne passt. Ich verrichte diese Arbeit gnadenlos, lasse keinen Stein auf dem anderen. Nun, so scheint mir, kann ich es für die Bühne freigeben.
Um einen »schönen Satz« darf es einem nie leidtun; das Geheimnis lautet: alles streichen, alles löschen, was die Handlung auf der Bühne nicht wenigstens einen Millimeter voranbringt, was ein bisschen vage, »nur schön« ist. Die Bühne verträgt einen solchen Luxus nicht. Streichen und nochmals streichen, und wenn es noch so sehr schmerzt.
Alles ist möglich. Jetzt messen sich nicht mehr menschliches Wollen, sondern Weltkräfte.
Stunden, in denen ich einer völligen Verwirrung anheimfalle: Was mache ich eigentlich? Hat mein Schreiben irgendeine zwingende Bedeutung? Oder ist es nur ein Zeitvertreib oder, schlimmer noch, gar Broterwerb? Die gewerbliche Verwertung eines Talents, der Fähigkeit, sich auszudrücken? Oder ist das Ganze nur eine Passion, um die Langeweile des Lebens zu vertreiben, irgendeine Neurose abzureagieren? Hat irgendetwas von dem, was ich bisher gemacht habe, den Menschen je etwas gesagt? Erfolg beweist gar nichts. Gut, Erfolglosigkeit auch nicht.
Und arbeite ich nach irgendeinem großen, bewussten Plan? Ich glaube nicht. Ich arbeite so, wie ich lebe. Und das tröstet mich. Mein Leben und meine Arbeit lassen sich nicht voneinander trennen. Beide sind ein und dasselbe, beide bilden die organische Voraussetzung für das jeweils andere. Ich kann mich aus dieser Arbeit weder in einen anderen Beruf noch in den Ruhestand »zurückziehen«; ich kann mich nur ins Grab zurückziehen. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als meine Arbeit fortzusetzen, ihr möglichst meine ganze Kraft und ganze Aufmerksamkeit zu widmen, möglichst hoch hinaus zu streben, und das mit leichter, lockerer Hand. Um alles andere kann ich mich nicht kümmern.
In seinem Buch Europa und die Seele des Ostens bringt Schubart den tiefsten Sinn des Gegensatzes zwischen West und Ost auf die Formel »Recht oder Liebe«. Der Westen vertraut nur noch auf das Recht, der Osten erhofft sich die Erlösung nur noch von der Liebe.
Aber wie kann jene Erlösung aussehen, die Schubart dem okzidentalen, »prometheischen« Menschen prophezeit? – eine Erlösung, die aus dem Osten kommen und dem sich in permanenter Angst um Macht und Besitz windenden, sich in Rechtssysteme und blutige Sicherheitskriege flüchtenden Menschen die totale Erlösung, ein Gotteserlebnis jenseits aller Religionen und Rechtssysteme bringen soll? Es kann sich natürlich nur um das Wunder des Leidens handeln. Ein Flammenmeer, in dem der Mensch versinkt, um dann erneuert, vom Egoismus befreit, wiedergeboren zu werden. Das ist die Verheißung des Ostens für den Westen.
Gibt es wirklich keine andere Lösung für den Westen? Keine Lösung in Vernunft und Gerechtigkeit? Alles, was ich über die menschliche Natur weiß, lehrt mich, dass es sie nicht gibt.
Es geht etwas in der Seele des westlichen Menschen vor sich, so viel ist gewiss. Ein deutscher Herr erzählt
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