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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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zu verzeihen: die Ungenauigkeit, die Unordnung. Ordnung ist Moral. Wer in diesem oder jenem nicht genau ist, ist letztlich in nichts genau, also in nichts moralisch. Aber so sind sie nun einmal, unordentlich und ungenau. Auch das muss man ertragen.
    Rimbaud, auf Ungarisch. Ein kleines Buch, erschienen in Debrecen . Vielleicht ist es gerade deshalb so rührend: Im feisten, tauben Debrecen, dieser soliden und sturen Awarenhochburg, wohnt ein Geist, der der wunderbaren, düster-verspielten, tragischen Existenz und Dichtung dieses wilden Geniebengels Ausdruck verleihen will. Immer und überall lodert das Wunder auf: zum Beispiel Rimbaud, auf Ungarisch, in Debrecen.
    Abends ein Gespräch mit T ., dem Arzt. Ist es schwer zu sterben? … Nicht so leicht, wie man glaubt.
    Zudem gibt es den Augenblick: »Jetzt ist er gestorben« in der Praxis nicht. Man stirbt nicht auf einmal. Das Sterben ist das aufeinanderfolgende Aussetzen bestimmter Lebensfunktionen. Erst hört der Augenreflex auf, dann setzt das Atemzentrum aus, dann das Herz. Das alles geschieht der Reihe nach, nicht auf einmal, sondern eines nach dem anderen. Es dauert nicht »lang«, aber – für den, der stirbt – gewiss auch nicht kurz. Es ist ein Prozess, der sich nicht mit dem Zeitmaß des Lebens messen lässt. Es ist die Zeit des Todes.
    Bei Veronal beträgt die tödliche Dosis zehn Gramm. Bei Morphium zwanzig, dreißig Zentigramm. Die Lähmung des Atemzentrums setzt bei beiden nach einer halben Stunde ein, die vollständige Absorption kann bis zu zehn, zwölf Stunden dauern. (Ich brauche das alles für Die Schwester .)
    Abends, beim Abendessen mit X ., der direkt vom Leichnam seines Vaters kommt; der Vater ist tags zuvor gestorben, an Gehirnthrombose. X ., den ich erst an dem Abend kennenlerne, wirkt ganz gelöst, redet in einer Art Trance. Sein Vater war Lehrer; der Junge beschuldigt die Welt, für den Tod seines Vaters verantwortlich zu sein; sie habe die Ideen seines Vaters nicht verstanden und ihn verfolgt. Das ist vermutlich übertrieben. Jeder wird heutzutage von irgendeinem verfolgt; eine Gehirnthrombose kann natürlich, muss aber nicht die Folge einer überspannten Nervenverfassung sein. Mein Hund Jimmy hat sich nie mit Politik oder weltanschaulichen Problemen befasst, bekam aber doch Kreislaufstörungen und wurde herzkrank.
    Nein, diese gelöste, redselige Erregung ist eine Art Rausch; so redet nur ein Mann, dessen Vater eben gestorben ist. Es ist der Rausch der großen, schmerzvollen Befreiung aus einer Vater-Sohn-Beziehung. Aber sagen kann ich ihm das natürlich nicht, denn davon abgesehen trauert er wirklich aufrichtig.
    Hunde verenden schon an einer minimalen Dosis Strychnin oder Arsen – aber sie vertragen Unmengen Morphium oder andere Alkaloide. Man benötigt achtzig Zentigramm, also das Fünffache der für den Menschen tödlichen Dosis, um einen kleinen Hund umzubringen.
    Jimmy röchelt und pfeift schon seit Tagen, »sein Zustand ist hoffnungslos«. Manchmal bin ich dieses medikamentös behandelten hoffnungslosen Hundesterbens schon müde; aber L . wacht über das erlöschende Hundeleben bis zum letzten Augenblick, lässt es nicht verglimmen. Und sie hat recht. Jimmys Leben hat seine eigenen Gesetze, nach denen er lebt und stirbt; wir haben kein Recht, in diese Gesetze einzugreifen, bevor sein letzter Augenblick gekommen ist. Wir müssen den traurigen Anblick seines Sterbens ertragen, den schweren Dienst an ihm auf uns nehmen. Das ist unsere Pflicht. Denn nicht nur der Mensch hat mit Gott einen Vertrag geschlossen, nein, auch der Hund mit dem Menschen.
    Man muss nicht »verständliche« Gedichte schreiben. Man muss wunderbare Gedichte schreiben, poetische. In Gontscharows Oblomow ertappt der Held seinen Diener beim Rezitieren von Gedichten. »Verstehst du die Gedichte?«, fragt er ihn spöttisch. »Verstünde ich sie, wären sie keine Gedichte«, erwidert der Diener. Eine perfekte Antwort und wahr.
    Vor dem Einschlafen, aufs Geratewohl, nach Langem wieder einmal Proust . Anfangs lese ich zerstreut, unaufmerksam, doch auf einmal packt mich die geheimnisvolle Kraft, die dieses Werk geschaffen hat. Denn nicht nur die Inbrunst seiner Kunst, auch die schiere Größe, das bloße Material, die Millionen Buchstaben bedurften einer göttlichen Kraft. Nicht nur die wunderbare, empfindsame Seele, auch der schwache, kranke Körper konnte das Tempo mitgehen. Ich muss mich in solchen Momenten immer schämen. Es gibt keine Ausreden, keine Schlupflöcher –

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