Tagebücher 01 - Literat und Europäer
familiären und gesellschaftlichen Verbindlichkeiten belastet. Ich überdenke das alles und bin plötzlich gut gelaunt. Es ist klar, dass der Kapitalismus in seiner vertrauten Form am Ende ist; und das ist nicht schlimm. Wir werden von der Hand in den Mund leben, so gut es geht, möglichst heiter und unbekümmert, und nur solche Arbeiten annehmen, die einem Schriftsteller auch Vergnügen bereiten. Das wäre so weit in Ordnung – nur wird sich in dieser Gesellschaft, in der ich nicht die Möglichkeit habe, für den Fall von Krankheit, Alter oder Erschöpfung vorzusorgen, keiner um mich kümmern, wenn diese Unglücksfälle eintreffen; und das ist schon weniger tröstlich. Und was glauben sie eigentlich, was passieren wird, wenn die Masse der Menschen den Eindruck gewinnt, dass Eigeninitiative etwas ist, was der Staat bestraft?
Aristophanes, Die Vögel . Die Übersetzung von János Arany ist nicht nur wunderbar, sondern auch getreu und makellos: Gerade deshalb ermüdet mich die Lektüre. Eine solch getreue Wiedergabe ist nützlich im philologischen Seminar, stört jedoch beim Lesen. Es kommt nicht darauf an, dass der Übersetzer die Bedeutung jeder Metapher, jedes Wortspiels, jeder belanglosen geografischen oder geschichtlichen Anspielung klärt, aufdeckt, umfassend erläutert. Viel wichtiger ist, dass die heitere Karikatur, die Die Vögel ja sind, ohne inneren Bruch, in der Vermittlung eines großen Dichters, den Leser erfreut und unterhält. Auch das kann übersetzerische »Treue« sein – und eine große Wohltat für das Original, da mir die ungarische Übersetzung nicht als einbalsamierte Mumie, sondern als lebendiges Meisterwerk überreicht wird.
Goethes Maximen, Xenien … wie wenn man aus einer sumpfigen Gegend durch Zauberkraft auf einen Berggipfel hinaufgelangt und klare Luft einatmet. Ein paar Atemzüge in der Atmosphäre dieses Geistes, und ich bin dem Sinn des menschlichen Schicksals näher; und ruhiger.
Er wusste, dass es etwas Göttliches in uns gibt. Aber er wusste auch: »Ein jeder schnüffelt nach dem eigenen Furz.«
Die Vögel wirken beängstigend treffend und aktuell. Als Pisthetairos, der Herr des Wolkenkuckucksheims, Zeus droht:
»Werd’ ich sein Marmorhaus …
Durch blitzumkrallende Adler niederäschern!
Porphyrionen schick’ ich in den Himmel
Nach ihm, beschwingte, pardelfellumhüllte,
Mehr als sechshundert …«
muss man unweigerlich an ein zeitloses Zusammentreffen von menschlicher Phantasie und Wirklichkeit denken. Ich lese diese Passage zu später Stunde; am Morgen erfahre ich, dass just zu jener Stunde »Porphyrionen … mehr als sechshundert« Luftangriffe auf Sofia geflogen haben.
Habe ich Angst? Vor mir selbst noch immer mehr als vor den Bomben. Gott, du himmlischer Geist, gib mir Kraft, redlich, gerecht und unverzagt zu sein.
Und was wäre, wenn du dich plötzlich in der Zeit niederstrecktest und alles geschehen ließest? …
Aristophanes, Die Ritter .
Die Art und Weise, dieses hektische, ständig wechselnde Versmaß zu lesen, will erst gelernt sein; man darf es nur laut , gleichsam maskiert lesen, wie wenn jemand auf einer griechischen Bühne die wechselnden Strophen skandiert. Denn sonst bleibt sein Sinn dürftig: Es gibt nur wenige antike Schriftsteller, bei denen auch das Spiel, die Vorstellung, das Versmaß so aussagekräftig ist wie der Sinn der Worte.
Scheußliches, quälendes Ohrensausen, das mich stundenlang nicht einschlafen lässt und dann abrupt verstummt. Nikotin? Blutdruck? Nervöse Anspannung? Vermutlich alle drei zusammen.
Dank Mark Aurel, meinen vierundvierzig Jahren und meinem begrenzten Vertrauen zu Ärzten: Um wie vieles geduldiger ertrage ich jetzt alles, was mir die Natur auferlegt!
Ein Herr sucht mich auf und bietet mir eine hohe – für meine Verhältnisse außergewöhnlich hohe – Summe, wenn ich einer Verfilmung meines Romans Die Glut zustimme. Natürlich stimme ich nicht zu, da selbst ich nicht mehr in der Lage bin, die ganze Wahrheit zu schreiben, und mir daher vorstellen kann, was sie in ihrer Verlogenheit aus dem machen würden, was nicht einmal ich zu sagen vermochte!
Sándor Eckhardts auf Französisch erschienenes Buch über die geschichtlichen und literarischen Beziehungen zwischen Ungarn und Frankreich; über die Füße von Béla III. und Ronsards Abstammung. Ronsards ungarische Abstammung ist – mag der französische Bouquinist in Burckhardts Buch Rilke erzählen, was er will – höchst ungewiss; der Großvater war
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