Tagebücher 01 - Literat und Europäer
möglicherweise Ungar, möglicherweise aber auch Rumäne, Mähre oder Bulgare. Und möglicherweise hat Villon etwas aus den Kutschen der ungarischen Botschaft in Paris gestohlen, als die ungarischen Herren in König Wladislaws Auftrag auf Brautwerbung nach Tours fuhren.
Gewiss gab es im Mittelalter und in der Renaissance eine Beziehung zwischen beiden Völkern; sie wussten voneinander; die Ungarn hatten einen guten Ruf, einen ganz anderen als noch zur Zeit der sagittis hungarorum . Man wusste im Ausland, dass die Ungarn eine kämpferische, reiche und bildungshungrige Nation waren. Wenn wir bedenken, unter welchen Umständen sie das waren, muss man sich wundern, dass sie es überhaupt waren. Und diese »Nation«, die so war, bestand zu Ronsards Zeit aus dreihundert, heute aus dreitausend Menschen.
Es gibt in Ungarn nicht zwei Arten von Menschen, es gibt keine rechte und linke Elite. Es gibt nur eine Art Mensch, und wenn diese wenigen Menschen in Internierungslager gebracht werden, hat das Land für eine sehr lange Zeit aufgehört, ein organischer Bestandteil Europas zu sein.
Ein Herr gibt ein Zimbalkonzert an der Musikakademie . Seine Bemühungen sind rührend. Die Vorstellung ist exotisch, etwa so, als zupfte ein Japaner alte französische Melodien auf irgendeinem Saiteninstrument. Nicht umsonst wurde das Zimbal als Begleitinstrument konzipiert. Sein Klang ist kalt, und es verfügt über erstaunlich wenige Töne; die Tonskala einer viersaitigen Violine ist unbegrenzt, die Anzahl der Töne eines Zimbals mit vielen Saiten hingegen ist genauso begrenzt wie bei einem Spinett. Dieses »ungarische Klavier« kann nur eine Musik hervorbringen, die zur ungarischen Stimmung passt. Der Künstler spielt darauf auch Bach; ich höre zu und bleibe kalt. Auf diesem ungarischen Instrument kann man leider nur eine Art Melodie klimpern. Lasst uns die Melodien und Instrumente nicht vermischen. Diese Sprache hat keinen Dante und auch keinen Shakespeare, und das hat seinen Grund. Aber sie hat einen János Arany, einen Vörösmarty, einen Kosztolányi. Und das ist eine Menge.
Stets die Wahrheit schreiben. Aber kann ein Schriftsteller stets die Wahrheit schreiben? Es ist schließlich sein Beruf, etwas zu »erdichten«; er erfindet Geschichten, schmückt die Details aus, ergänzt sie, fügt etwas hinzu, vervollkommnet sie. Die Wahrheit im Sinne des Standesregisters kann er nicht schreiben, das wäre keine Literatur, nur Wiederholung und Langeweile.
Aber er wird immer die Wahrheit schreiben, solange er der Vision treu bleibt. Jener Vision, die durch seine erdichtete Fabel hindurchschimmert. Das ist die Wahrheit des Schriftstellers: die Treue zu seiner Vision. Alles andere ist nur Befund und Reportage.
Die meisten Wesen: Schriftsteller, Leser, die Lebewesen, unter denen ich leben muss, sind wie Tiere. Ja, schlimmer als Tiere; sie sind auch boshaft, taub für alles, was schön und sittlich ist.
Da es nun einmal so ist, versuche ich großmütig unter ihnen zu leben. Zweifellos habe auch ich viel Tierisches, Gemeines in mir. Das ist ein Grund mehr, großmütig zu sein, unauffällig und ohne viel Aufhebens, ihnen immer wieder ihre kindische Grausamkeit, wirre Niedertracht, plumpe Sentimentalität, ihr verlogenes Pathos nachzusehen. Du musst so taktvoll und großmütig sein, dass sie deine Gefühle gar nicht erahnen, wenn du nachsichtig gegen sie bist, wenn du großmütig unter ihnen weilst.
Wilde Träume. Und ich erwache ausgeruht. Fremde und Bekannte halten mich auf der Straße an und gratulieren mir missmutig: »Du siehst gut aus.« Der Neid ist die organische Krankheit dieser Stadt. Wer hier lebt, erträgt es nicht einmal, einen anderen in halbwegs guter körperlicher Verfassung zu sehen, ohne vor Neid gelb zu werden.
Mit meinem Hund Jimmy geht es zu Ende. Sein Körper ist voll Wasser, er kann nicht mehr Treppen steigen, wartet geduldig, dass wir ihn auf den Arm nehmen und hinauftragen. Wir stärken sein Herz mit Koffein. Ihm bleiben vielleicht nur noch Tage. Er ist geduldig, kommt immer wieder an mein Bett, hebt seine weiße Schnauze und wartet, dass ich ihn streichle. Das tut ihm gut. Nur die Liebe hält ihn noch am Leben. Er geht mit bedächtigen Schritten hin und her, lauscht. Er versteht nur so viel, dass jetzt etwas Großes und Ernstes mit ihm passiert. Das Größte, was mit einem Lebewesen passieren kann. Ab und zu bellt er, heiser und müde. Sonst lauscht er nur. Er wartet auf etwas, bereitet sich darauf vor.
Eines ist schwer
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