Tagebücher 01 - Literat und Europäer
mir, dass sich in den Tagen nach den großen Bombenangriffen, als in Berlin, Leipzig, Hamburg und all den anderen Großstädten plötzlich Hunderttausende Menschen ohne Obdach, Möbel, Kleidung dastanden, eine seltsame Ruhe der Seelen der Menschen bemächtigte. Als hätten sie sich, zu einem entsetzlichen Preis, von etwas befreit: von jener Angst, die Schubart als die Urangst des prometheischen Menschen bezeichnet: der Besitzangst. Auf einmal wird alles entsetzlich einfach.
Dieser Herr ging eines Tages kurz nach den Luftangriffen auf Berlin mit seinem kleinen Sohn in der Vorstadt spazieren. »Schau, Papa, letzte Woche stand hier noch ein Haus«, sagte das Kind. Er sagte das ohne jede Verwunderung, wie wenn unsereiner bemerkt, dass ein Weißdornbusch, den er vor Kurzem bei einem Spaziergang gesehen hat, erblüht ist. Für uns war ein Haus noch etwas, was Jahrhunderte Bestand hatte. Für das deutsche Kind ist es etwas Flüchtiges, Vergängliches.
Thornton Wilders (die Budapester Presse schreibt beharrlich Wildner) Stück Our Town im Lustspieltheater. Wilder hat mit der Brücke von San Luis Rey einen der schönsten zeitgenössischen Romane hervorgebracht. Danach hat er unseres Wissens nichts Bedeutendes mehr geschrieben. Und nun dieses Stück, das vielleicht gar kein Stück, aber gute Literatur ist. Doch wer weiß schon, was ein Stück ist?
Die Aufführung verläuft in atemloser Spannung, in einem Theatergebäude, in dem ein Schriftsteller mittels einiger improvisierter Bühnengestalten, ohne Kulissen und Requisiten, vom Schicksal einiger einfacher Menschen, von Leben und Tod erzählt. Er spricht selbst, in der Maske eines Regisseurs. Das, was er erzählt, erwacht zuweilen durch die Schauspieler zum Leben. Was er erzählt, ist weder spannend noch besonders interessant. Aber wie er es sagt, ist außerordentlich, in höchst dramatischer Weise einfach und interessant. Ein großer Schriftsteller füllt mit seinen Worten die ganze Bühne aus. Das ist seit Shakespeare nur wenigen gelungen. Wilders Wirkung beruht nicht auf seiner »Handlung«, sondern auf seiner Seele.
Denn ohne Kulissen und Requisiten auszukommen ist letztlich nur ein Trick; ein Trick der lärmenderen Art; als erklänge alles, was Wilder zu sagen hat, in Kulissen und mit Requisiten. Ähnliches haben auch schon Copeau im »Vieux Colombiers«, das Théâtre des Quinze, Baty im »Studio«, Piscator in Berlin und die neuen Russen versucht. Das sind nur Äußerlichkeiten. Worauf es ankommt, ist, dass ein Schriftsteller auch auf der Bühne durch seine bloße Seele zu wirken vermag, allein durch das, was er über das Schicksal des Menschen zu sagen hat. Wilder spielt ein bisschen zu sehr damit, dass er mit der Bühnensituation gar nicht spielt. Das ist das Monotone an seinem Werk. Und dennoch ist das Ganze Literatur und Theater, beides zugleich.
In einer Einsamkeit leben wie die Tiere oder die Engel.
Wenn ich vor meinen Bücherregalen stehe, habe ich ständig das Gefühl, dass dort ein Wörterbuch fehlt: eine Art Wörterbuch mit genau jenen Wörtern auf Ungarisch oder Französisch, die alle Menschen ein Leben lang im Kopf haben, aber niemand auszusprechen wagt.
Und was wird derweil aus uns, im versengten Europa? Nichts wird übrigbleiben als unsere Seelen. Aber auf die will ich achtgeben. Ich werde sie, wenn möglich, valorisieren.
Der Mensch lässt sich mit Vernunft nicht davon überzeugen, dass er schuldig ist; aber vielleicht durch irgendeine sehr behutsame, systematische Pädagogik, die ihm bestimmte Gewissensreflexe anerzieht? … Wie bei Pawlows Experimenten: Eine Ratte, die jedes Mal, wenn sie gefüttert wird, ein Läuten hört, rennt nach dem fünfhundertsten Versuch beim Läuten aus ihrem Versteck. Bei ihrem Enkel hat sich diese Erfahrung bereits in einen reflexartigen Reiz verwandelt: Er reagiert schon auf das fünfzigste Läuten. (Skeptiker behaupten, der Urenkel läute schon von selbst, wenn er hungrig ist. Vielleicht.)
Den Menschen Reflexe anerziehen, die bei Kontakt mit Phänomenen wie Sünde, Eitelkeit, Gier, Egoismus ausgelöst werden. Durch intensive und hartnäckige Methoden mechanische Prozesse im menschlichen Gewissen in Gang setzen. Ein Mensch, der in den Hungerstreik tritt, kann nicht durch seinen Willen verhindern, dass seine Bauchspeicheldrüse zu arbeiten beginnt, wenn ihm Essen gezeigt wird; die lange Erfahrung hat sich in eine biologische Funktion seines Organismus verwandelt. Ein Mönch wird beim Anblick einer schönen Frau
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