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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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durchleben müssen. Aber nie war es mir beschieden – noch wird es mir je beschieden sein –, unter politischen oder weltanschaulichen Parolen zu leben, bei denen nicht Krüppel und Idioten die Gesunden, Untalentierte und Halbtalentierte all jene, deren Talent in irgendeiner Sparte auch nur um einen Zentimeter herausragte, mit falschen und absurden Anschuldigungen überschwemmt hätten. Wer sich dessen nicht bewusst ist, kennt die Menschen nicht. Man muss damit genauso sicher rechnen wie mit dem Tod.
    V . mahnt mich, dass es ratsam wäre, Zauber im Frühjahr auf die Bühne zu bringen, da im Herbst bereits eine Atmosphäre in der Welt herrschen könnte, in der es für ein solches »literarisches Theaterstück« kein Publikum mehr gäbe; die Leute wollten nur noch Schund oder politische Tiraden. Das ist schon möglich; aber dann wird es auch für meine Bücher, meine anderen Schriften, mich selbst keine »Atmosphäre« mehr geben. Diese Möglichkeit muss man einkalkulieren, ihr entgegeneilen darf man nicht.
    Also bleibt einem nichts anderes übrig als zu arbeiten. Und zu leben, aber nur für das Wesentliche: neben der Arbeit möglichst nur das tun, worauf man wirklich Lust hat, nicht nur das, was einem vielleicht möglich ist. Und möglichst nur mit solchen Menschen in Berührung kommen, die man liebt, schätzt oder mit denen man Mitleid hat. Und geduldig bleiben und sich vor Augen halten, dass der Tod nicht das Schlimmste ist. Aber vielleicht ist auch das Leben nicht das Schlimmste, alles in allem … und wenn der Abend hereinbricht, wird mich schon irgendein Engel der Finsternis in die Arme nehmen.
    S ., ein liebenswerter, weinseliger Kneipenphilosoph, hat einmal gesagt: »Charakter ist schon halb Talent.«
    Ein weiteres ungarisches Buch über Rimbaud, bereits das zweite innerhalb von zwei Wochen. Diesmal hat György Rónay die Gedichte des Enfant terrible übersetzt und eine Biografie über ihn geschrieben … Ist das nicht rührend? Im gleichen Augenblick, als die Abtei Monte Cassino auf Betreiben der Deutschen zerstört wird , setzen junge Ungarn in schönen und gewissenhaften Büchern ein Denkmal für ein wildes und groteskes französisches Genie … Das sind die – letzten – Zeichen, die darauf hoffen lassen, dass noch nicht alles zu Ende ist.
    X . ist ein hervorragender Schriftsteller. Seine Gedichte sind konstruiert, aber seine Prosa ist kraftvoll, klug, edel. Davon abgesehen ist er ein verweichlichter, feiger und hinterhältiger Charakter. Ich bewundere seine Prosa, aber seine Person und seine Auftritte muss ich meiden.
    Flaubert, Trois contes . Die Erzählung vom alten Diener, der an seinem Lebensabend von einem ausgestopften Papagei träumt. Und so stirbt. Ein Meisterwerk.
    Was ist das Schreiben, die Kunst? Am Abend ein Disput über Benczúr . War er wirklich ein Künstler? Er war ein guter Maler. Er malte stofflich, konnte die Wirklichkeit hervorragend abbilden: Seide, Samt, Fleisch wirken realistisch auf seinen Bildern. Munkácsy ist deklamatorisch, aber er sagt um einen Wärmegrad mehr über die Welt aus, die er abbildet. László Paál malt einen Wald, und dem Betrachter läuft es kalt über den Rücken.
    Einer, der talentiert ist und nur das, bildet die Wirklichkeit ab. Zola war zu mehr nicht in der Lage. Flaubert hingegen war es. Denn ein Künstler bildet nicht die Wirklichkeit ab, sondern jene Vision, die das Erlebnis der Wirklichkeit in seiner Seele weckt. Dieses Mehr ist die Kunst.
    Gestern Luftangriffe auf Zagreb , eine Stunde Luftlinie von hier, und auf kleine finnische Städte, zur gleichen Zeit werden Tag für Tag, ununterbrochen mehrere Millionen Kilogramm Bomben über deutschen Städten abgeworfen. Leipzig , die Bücherstadt, in der ich meine ersten Universitätsjahre verbrachte, ist ausgebrannt. Es gibt in Deutschland kaum mehr unversehrte Städte. Über Rom kreischt der Aasgeier des Krieges. Und über Ungarn fliegen Tag für Tag englische, amerikanische und russische Maschinen hinweg. Es vergeht kein Tag, an dem nicht das Radio verstummt, zum Zeichen, dass ausländische Maschinen über uns hinwegfliegen, um zu einem tödlichen Angriff anzusetzen … vorerst noch über uns hinweg. Doch schon heute Nacht, morgen oder in der nächsten halben Stunde könnten sie über Budapest kreisen.
    Und was macht man in solchen Stunden, wenn das Radio stumm ist und die Sirenen jede Sekunde aufheulen könnten, wenn eine Bombe aus sechstausend Meter Höhe mit einem Schlag alles zerstören könnte, wozu

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