Tagebücher 01 - Literat und Europäer
vergeblich wegsehen; in seinen Hormondrüsen beginnt der Reiz zu wirken. Und so könnte ein Mensch, der inmitten von Chaos und Sünde durch eine systematische Pädagogik zur Bewusstheit erzogen wurde, seinen Nachkommen vielleicht eine Art Drüsenerfahrung vererben, die in gefährlichen Augenblicken gewisse Selbstschutzreflexe auslöst. Aber wo ist ein solcher Pädagoge?
Ich kann von den Menschen nicht verlangen, dass sie gerecht sind. Aber von mir selbst kann ich es fordern, selbst wenn alle um mich herum ungerecht sind. Ich darf mir selbst gegenüber nicht nachsichtig sein.
Und doch, doch glaube ich an Wunder. Der eine konnte sich retten, kehrte nach anderthalb Jahren aus dem Arbeitslager zurück. Ein anderer, dessen Todesnachricht schon im Umlauf war, schrieb einen Brief aus der Kriegsgefangenschaft. Überall Zeichen des Wunders. Winzige Wunder zwar gemessen am Ganzen, an dem Unglück, das über die Welt hereingebrochen ist, kleine, persönliche Wunder. Aber es gibt etwas, woran man glauben muss, denn seine Zeichen sind da. Aber selbst wenn es keine Zeichen gäbe, müsste man glauben. Ein Wunder kann nur wundersam sein.
Giraudoux ist gestorben. Jede seiner Zeilen war ein brillantes Feuerwerk – seine Romane und Theaterstücke, seine Essays; sein Stil sprühte vor Kraft, als ob in den Tiefen seiner Sätze irgendein geheimnisvolles Element, eine Art Radium glühte.
Heinrich Manns Henri Quatre in einer neuen – schlechten – ungarischen Übersetzung.
Der »große« Mann, Thomas, hat seinen jüngeren Bruder Heinrich – der, wie ich jetzt sehe, weniger beredt und bezaubernd, dafür aber eine starke und charaktervolle Schriftstellerpersönlichkeit war – erdrückt und niedergestreckt. Dieses Buch ist der Urvater jener modischen literarischen Biografien, mit denen die Zweigs, Ludwigs, Harsányis später hervorragende Geschäfte machten. Es ist ein einfaches und ernsthaftes Buch, der Autor brüstet sich nicht mit seinem Geschichtswissen, ist in der Vergangenheit heimisch und lässt seine historischen Helden mit der klaren Stimme des Erzählers sprechen. Eine respektable Arbeit – ohne die Musik und das Pathos seines Bruders Thomas. Heinrich hat die undankbarere Rolle gewählt. Er war kein Prophet und kein Zauberer; er war nur ein Schriftsteller. Kein Wunder, dass er an dieser undankbaren Rolle zugrunde ging.
Ich kann von niemandem verlangen, dass er mir verzeiht … was eigentlich? Dass ich gelebt, Romane geschrieben habe, während er im Arbeitslager war. Ich verlange es auch nicht. Ich stelle nur fest, dass es manchmal Zeiten gibt, in denen man durch die Tatsache seiner bloßen Existenz genauso schuldig wird, als hätte man etwas Unrechtes begangen.
Für einen Schriftsteller gibt es keine größere Gnade als ein Gedicht – jener Zustand, in dem ein paar sinnlose Worte in einem bestimmten Versmaß eine überbegriffliche Bedeutung erlangen. So etwas kann man weder beschließen noch wollen. Mit Willen und Verstand lassen sich schöne, edle, knisternde, unterhaltsame oder auch vollkommene Gedichte schreiben – nur eben keine echten Gedichte. »Ode an den Westwind« – geschrieben von Shelley und ohne jeden Sinn. Und doch ist es nicht möglich, mehr zu sagen, in einem Gedicht.
Ich ahne manchmal, wie es Montaigne zur Zeit der Religionskriege dreißig Jahre lang als Schriftsteller, Edelmann und Bürgermeister ergangen sein muss. In einer Zeit, als jeder verdächtig war, der hierzu oder dazu gehörte. Als man tagtäglich mit Kind und Kegel vor den wütenden Henkersknechten der jeweiligen Weltanschauung »Farbe bekennen« musste. Heute leben wir Schriftsteller und Edelmänner genauso, zumindest jene Schriftsteller, die innerlich auch noch Edelmänner sind; was natürlich keine Frage der Herkunft ist. Sozialisten, Weiße, Rote, Kommunisten, Nazis, dazu die entfesselten liberal-demokratischen Freischärler, die Beleidigten und Übergangenen, die Gefolterten und Ausgegrenzten, alle fordern sie Rechenschaft, wollen Rache, wollen mich für sich vereinnahmen und mich zugleich verleugnen, wollen, dass ich den Eid auf sie schwöre und gleich darauf irgendeinen Gelegenheitsscheiterhaufen besteige. Das ist tragisch, keine Frage. Aber fraglos auch langweilig. Ich kann allmählich nachvollziehen, wie es Montaigne erging.
Ich habe den Liberalismus, den Kommunismus, die weiße Ära, die neobarocke Demokratie, den Faschismus und den Nationalsozialismus durchlebt und werde wohl auch noch diverse rosarote oder rote Zeitalter
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