Tagebücher 01 - Literat und Europäer
auch zu wunderbaren Visionen anregt … Benommen, fast selig schlafe ich ein. Ich vergesse völlig, dass Krieg herrscht, dass unser Schicksal nunmehr besiegelt ist, dass am Morgen alles wieder von vorne beginnt, das Warten auf die Bomben, der elende Kampf gegen die ungeheure Sinnlosigkeit, jede Sekunde in höchster Gefahr, und dass diese grausame Hoffnungslosigkeit nunmehr ebenso wirklich ist wie mein Haar oder dieser Tisch hier … Dank Baudelaire vergesse ich für eine Nacht die Wirklichkeit. Noch am Morgen erwache ich in dieser seligen Unbewusstheit; wie ein Schwerkranker, zum Tode Verurteilter oder jemand, der sich am Morgen bei irgendeinem schrecklichen Verhör vor einem Richter verantworten muss – und der in der Nacht davor jedes Gefahrenbewusstsein ausgeschaltet hat, sodass er alles, was ihn am Tag erwartet, für einen bösen Traum hält und selig schläft und träumt … und ein umso schrecklicheres, grauenvolleres Erwachen erlebt.
Schweigen allein genügt nicht. Wirklich und aufrichtig, im tiefsten Inneren, nicht gekränkt sein: das ist die einzig mögliche Antwort.
Wenn ich mein Schicksal Gott anvertrauen will, spüre ich, dass ich nicht das uneingeschränkte Recht dazu habe. Ich muss daran glauben, dass ohne Seinen Willen »kein Spatz vom Dach fällt …«, aber ich habe nicht das Recht, alles blind in seine Hände zu legen; Gott hat es auch mir anvertraut, mein Schicksal zu lenken und zu bestimmen. Und erst wenn ich diese Aufgabe auf mich genommen habe, wird er mir helfen.
Die Trägen und die Feigen, die nickend und murmelnd alles Gott überlassen: sie werden im Augenblick der Krise ohne Gottes Wort bleiben.
März . Der Winter ist nach Krankheit und Sorgen doch noch vorübergegangen.
Bis zum Frühling verheißen große Gefahren verhängnisvolle Veränderungen.
Was kann ich tun? Ich schreibe meinen Roman, gehe zum Zahnarzt, zahle meine Steuern, lese Frazers Buch über die Magie, pflege nur noch zu wenigen Menschen Kontakt, von deren Loyalität ich überzeugt bin, und schreibe ab und zu in muffigen Budaer Kaffeehäusern Gedichte, Achtzeiler, wie damals, als ich zwanzig war … Das ist alles, was ich tun kann, wenn die Weltmächte Pest, Schwefel und Untergang über uns bringen. Und manchmal versuche ich, mich und meine Lage in der Welt zu verstehen. Die Welt kann ich nicht mehr verstehen: Der Hang des Menschen zur Selbstzerstörung ist geradezu grandios.
Ich möchte noch einige Gedichte schreiben.
Unsere Kritiker, diese kühnen, unerschrockenen Teufelskerle, diese Verfechter der Wahrheit, versetzen allen bürgerlichen Schriftstellern, so auch mir, kräftige Tritte. Das ist nicht sehr schwer heutzutage. Ich würde mich freuen, wenn dieselben kühnen Kritiker auch die mehr oder weniger zarten Ergüsse unserer bäuerlichen, völkischen und Arbeiterschriftsteller ähnlich überheblich beurteilten. Aber davor hüten sie sich.
Einem »arrivierten« bürgerlichen Schriftsteller kann heutzutage wirklich jeder gefahrlos einen Tritt versetzen. Aber den »benachteiligten« populistischen und proletarischen Schriftstellern nähern sich diese traurigen Halunken der Literatur nur andächtig, mit dem Weihrauchfass. Sie schnuppern nach dem Wind, dem Wetter, sie ahnen etwas. »… und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute?« Das ist nicht gesagt. Vielmehr leben wir heutzutage, bis wir getötet werden. Und das ist nicht dasselbe.
Die Erneuerung des Westens vom englischen Schriftsteller Michael Roberts . Der Verfasser ist katholisch, hat sämtliche Diagnosen, die die jahrzehntelange Krisenliteratur bis zum heutigen Tag hervorgebracht hat, gelesen – er zitiert Freud, Wells, de Broglie, Ortega und Huizinga. Und nach alledem empfiehlt er als Methode und Lösung eine aktualisierte Variante der zehn Gebote.
Nervös und gelangweilt durchblättere ich das Buch: Diese Krisenliteratur mündet in hoffnungslose Gemeinplätze. All diese Röpkes , Neergaards , Schubarts, die an der sterbenden – oder ihres Erachtens sterbenden – abendländischen Kultur Leichenschau betreiben und dann Heilmittel und einen »dritten Weg« empfehlen, vergessen eines: mich, den Menschen. Über mich steht nirgends ein Wort geschrieben. Es geht um Kultur und um Systeme, die in die Sackgasse geführt haben. Die Diagnose ist anödend präzise, die Massen haben revoltiert, die Zivilisation hat das Lebensgefühl mechanisiert und so weiter. Nur von mir, mir persönlich spricht keiner, mir bietet niemand eine »Lösung« an, ich kann
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