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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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ich einen Bezug habe, was den Sinn meines Lebens ausmacht? … Man bleibt seltsam ruhig. Ich arbeite in diesen Stunden, schreibe und lese. Meine Seele gehört dem Weltgeist, mit dem sie sich ewig verschmilzt, und der Rest? Auch Menschen sterben, nicht nur Städte.
    Die Menschen wimmern, fliehen. Dann beginnen sie auf einmal zu wiehern, Gänsebraten zu fressen, Wein zu bechern, sich zu lieben. Dann wiederum flehen sie unterwürfig zu Gott. Nur wenige benehmen sich in einer menschenwürdigen und unserer göttlichen Abstammung entsprechenden Weise: einfach, besorgt, lächelnd, demütig.
    Literarisches Café: wie die Sonderabteilung einer Nervenheilanstalt, wo Patienten statt mit Handarbeit und Gesellschaftsspielen mit größenwahnsinnigen Wunschvorstellungen beschäftigt werden. Augen voll rasender Selbstgefälligkeit, zerzauste Haarschöpfe, Grimassen schneidende, misstrauische Gesichter. Die Literatur ist der einzige Dienst an Gott, zu dem Menschen fähig sind – den Sinn des Daseins zu formulieren und das Verhältnis des Menschen zur Welt auszuloten –, und doch weist gerade dieser Dienst die meisten kranken und geschädigten Priester auf.
    Frazer, Der goldene Zweig . Tausend dicht bedruckte Seiten über Magie, Verwünschung und Heilung, Glaube und Aberglaube, über die fixen Ideen, Irrglauben und Vorahnungen aller primitiven und hoch entwickelten Kulturen früher und heute und vielleicht auch über etwas anderes, Wirkliches …
    Ich lese es so, als reiste ich in den Dschungel. Und in der Tat, dieses Buch entführt einen in den Dschungel, in die schwülen Urwälder der menschlichen Seele. Erstaunlich sind die vielen Relikte der beiden Arten von Magie in Europa. Wie viele homöopathisch kleine Spuren von Magie es doch in unserem Leben gibt!
    Die Vorstellung, dass die menschliche Seele auch aus der Entfernung auf einen menschlichen Organismus einwirken kann – der Urglaube jeder, selbst der primitivsten Magie! –, ist in meinen Augen weder Irrglaube noch »Aberglaube«. Ich weiß freilich nicht, ob die Dayaken recht haben, wenn sie eine aus Haar, Haut und Speichel des Feindes geknetete, diesen verkörpernde Puppe töten und dadurch auch auf das Leben des Originals einzuwirken, es zu vernichten glauben … Aber ich glaube sehr wohl, dass sich irrationale Kräfte zwischen Menschen über das Bewusstsein in Taten verwandeln können. (Das alles sind Notizen zu einem fernen Roman: Mana oder der Detektivroman , so – oder ähnlich – soll er heißen.)
    Vor hundert Jahren revoltieren Baudelaire und Poe gegen »die Massen«. Sie ertragen den Amerikanismus nicht länger, die flachen Perspektiven der Demokratie lassen sie erschaudern, sie verkünden das Recht der künstlerischen Revolte gegen die Massen, nehmen die heilige und grausame Rolle des Außenseitertums und Andersseins auf sich gegen die Schreckensherrschaft von Konsens und Kompromiss. Vor hundert Jahren … Wie würde sich Baudelaire heute verhalten? Sicherlich genauso, nur noch unbeugsamer, noch selbstbewusster, noch entschlossener zum Tod und zu seiner Rolle, sich mit der Kraft eines Bekenners von den anderen unterscheidend, die heldenhafte Inspiration des Dandys in seinem Werk und seiner Rolle bewahrend. Ein Künstler kann auch heute nicht anders handeln. Der Rest ist Aufgabe der Politiker und der Journalisten.
    Théophile Gautiers Studie über Baudelaire ist nicht nur deshalb bedeutend, weil sie geistreich und in sich makellos ist, sondern weil sie den Leser sachlich und demütig in Baudelaires Welt einführt, den Dschungel seines Lebens, Wesens und Werkes zu einer einheitlichen Landkarte zusammensetzt. Diese Schrift ist ein klassisches Muster für alle zukünftigen Ästheten: So muss man über einen Dichter sprechen, so muss man etwas Neues vorstellen, so muss man den Zugang zu einer fremden Welt suchen, mit solch stiller Begeisterung und unerbittlicher Professionalität, entzückt und neutral zugleich. Ein Urteil hat nur dann Gültigkeit, wenn es nicht nur den Schlüssel zu einer unbekannten, rätselhaft verschlossenen Welt bietet, sondern auch die phantastischen, geheimnisvollen Territorien dieser neuen Welt ertastet, vermisst und wie ein Ingenieur reguliert. Alle anderen Äußerungen des »Gefallens« und »Missfallens« sind Privatmeinungen.
    Nachts lese ich Baudelaire, tauche völlig in seine Welt ein. Seine Worte, seine Musik, seine Stimme, seine Visionen durchdringen mein Bewusstsein, als atmete ich einen duftenden Rauch, der mich sowohl betäubt als

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