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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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bin ich, der ich heute ebenfalls – noch mehr als sonst – sterblich bin, bereit zu sterben, ohne auch nur das dritte Kapitel gelesen zu haben.
    Eine immer tiefere, geheimnisvollere, bewegendere Erfahrung: In allem, was wir Menschen planen, schaffen, hektisch zu ordnen versuchen, Gottes Handschrift erkennen.
    Nicht gekränkt sein, ja, das ist die Aufgabe. Ich habe es mir vorgenommen. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich ihrer nicht eines Tages überdrüssig werde.
    Die Idioten und Halunken schießen wie Pilze aus dem Boden in den Gewitterschauern dieser grotesken Revolution. Diese Revolution hat alles: Brachialgewalt, »Dynamik« und ein »Ziel«, nur Namen und Talente hat sie nicht.
    Was ich mir noch wünsche? Das Meer zu sehen. Nach Paris zu fahren. Im Bett zu sterben, aber so, wie Gott es will.
    Und woher willst du wissen, was Gott will? Schweige und ertrage auch, dass du seine Absichten nicht verstehst.
    S . erzählt, dass er ein Visum beantragen wollte und zur Gestapo ins Hotel Astoria geschickt wurde. (Seltsam, was für Schicksale manche Häuser haben: Dieses Hotel war einst das Hauptquartier der Revolution von 1918!) Dort missverstand man sein Begehren und lud ihn auf einen der Wagen, die Verhaftete nach Kistarcsa brachten. Es dauerte bis zum Abend, bis er das Missverständnis aufklären konnte. Währenddessen hauste er im Hauptquartier der Gestapo auf dem Schwabenberg . Hier sah und hörte er Folgendes:
    Zwei Bauern aus Szentendre melden sich bei einer der dem Volksbund angehörenden, auch ungarisch sprechenden SS-Wachen. Sie berichten ihm, dass ihnen ein Jude aus dem Dorf, der sie angeblich bei einem Pferdekauf betrogen hat, Schwierigkeiten mache. Sie bitten um Erlaubnis, den Juden zu Hause verprügeln zu dürfen. Der SS-Mann beruhigt sie, sie könnten ihn getrost verprügeln, darauf stünde heute keine Strafe. Die beiden Bauern beharren jedoch auf einer schriftlichen Erlaubnis ; und als sie die nicht bekommen, entfernen sie sich unzufrieden.
    Die Geschichte ist typisch, und zwar nicht nur für die beiden Bauern aus Szentendre. Diese ganze rechtsextreme Gesellschaft Ungarns hat sich erst dann so richtig, aus vollem Herzen ans Judenprügeln gemacht, als sie die schriftliche Erlaubnis der Deutschen dafür bekommen hatte.
    X . befindet sich seit einer Woche im Getto von Kaschau. In seinen ersten drei Briefen beschreibt er genau, was in einem Lager vor sich geht, in dem es kein Wasser, keine Latrine, keine Gebäude, nur Scheunen ohne Seitenwände gibt und wo man innerhalb von fünf Tagen fünfzehntausend Menschen zusammengepfercht hat.
    In jeder ungarischen Stadt mit mehr als zehntausend Seelen werden obligatorisch Gettos eingerichtet und die Juden der umliegenden Dörfer dort zusammengetrieben. In Losonc begann die Umsiedelung heute früh. Noch während ich dies schreibe, klappern vor meinem Fenster die Karren, auf denen die Elenden ihre ärmlichen zerlumpten Sachen vor sich her schieben.
    Ich fühle mich wie Josephus Flavius , als ihn Titus und Vespasian zu den Mauern Jerusalems schickten, damit er den Untergang Jerusalems miterlebe und beschreibe. Wenn ich es überlebe, werde ich es beschreiben.
    Mai. Blühende Bäume. Diese duftende Gelassenheit und erhaben gleichgültige Konsequenz, mit der die Natur das menschliche Elend zudeckt, ist geradezu ärgerlich.
    Es hilft nichts, man muss alles persönlich erleben, am eigenen Leib, in der Wirklichkeit; um es zu verstehen. Alles, was wir in den letzten Jahren über das Schicksal der polnischen, österreichischen, deutschen Juden gehört haben, waren nur Nebelbilder. Erst als ich zum ersten Mal Zeuge wurde, wie zwei Gestapo-Soldaten – am Vörösmartyplatz in Budapest – einen Mann zu einem Lastwagen brachten, begriff ich die Wirklichkeit. Und jetzt, da diese Männer, Frauen und Kinder mit den gelben Sternen und ihrem kümmerlichen Gepäck an meinem Fenster vorbeiziehen, um zu Fünf-, zu Zehntausenden zusammengepfercht irgendeinem ungewissen – ich fürchte, gar nicht ungewissen! – Schicksal entgegenzugehen, da sie ihr Zuhause, ihre Arbeit verlassen müssen – warum?! –, um ihr Dasein in armseligen Hütten und Baracken am Stadtrand zu fristen, mit zwei Wochen alter Nahrung, ohne Geld, ohne Einkünfte – warum?! –, jetzt endlich habe ich begriffen. Man muss es nur mit eigenen Augen sehen.
    Die Seele des Menschen hat keine wirkliche Phantasie. Nur die Wirklichkeit hat eine Phantasie.
    Es ist eine Schande zu leben. Es ist eine Schande, unter der Sonne

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