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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Straßen von Paris, über die riesige Autos mit gut gekleideten Menschen huschen, seinen Pullmanwagen, die arbeitende oder sich amüsierende Menschen zwischen den Städten Europas befördern … All das ist verschwunden. Vielleicht werde ich es nie, nie wiedersehen. Ich denke an Berlin, das nicht mehr existiert, und dieser Gedanke ist – unabhängig von aller Politik! – genauso entsetzlich und unfassbar wie der, dass demnächst vielleicht auch Budapest nicht mehr sein wird. Gewöhnlich lebe ich in einer Art apathischer Verzückung. Aber in diesem Augenblick, im Kino, begreife und spüre ich, dass das, was in diesen Tagen passiert, unfassbar und nicht wiedergutzumachen und dennoch ungeheuer wirklich ist. Ich erschaudere, Tränen treten mir in die Augen.
    Dann denke ich daran, dass auch ich, der Mensch, sterben werde; warum sollen also nicht auch die Steine, die Kulturen, die Städte sterben?
    Der Mensch ist nicht wirklich fähig zur Freude. Auch die größte Freude versauert, verdirbt erstaunlich schnell. Er kann sich nur kurz freuen, aber seine Fähigkeit zum Schmerz ist schier unbegrenzt: Er kann ihn fast unendlich ertragen.
    Giraudoux’ Bella . Wie hätte er das Werk je ohne Proust schreiben können? Und doch ist das, was er schreibt, weder ein »Plagiat« noch ein »Effekt«, sondern nur die organische Vermehrung eines geistigen Phänomens, ein Mehrwert. Aber ohne Proust hätte es diesen Mehrwert nie gegeben.
    »Noch nie hat ein kleines Volk so keck einer Großmacht den Krieg erklärt wie Ungarn der Sowjetunion …«, schreibt eine schweizerische Zeitung. Kleines Volk? Das kleine Volk hat niemandem den Krieg erklärt. Nicht einmal das im Namen des Volkes Beschlüsse fassende Parlament hat den Krieg erklärt. Eine kleine Clique hat es getan, ohne das Volk und das Parlament zu befragen, ein paar verblendete oder ambitionierte Militärs und Politiker. Das Volk hat erschüttert geschwiegen. Auf dem Foto, das den Plenarsaal in dem Augenblick zeigt, als Bárdossy die Kriegserklärung an Russland verkündet, stehen alle – auch die Regierungsmitglieder – mit gesenktem Kopf da.
    Unruhige Nacht. Ich erwache alle zwei Stunden. Im Halbschlaf vernehme ich die Stimmen von Menschen, mit denen ich mich tagsüber unterhalten habe. Sie wimmern, jammern, stöhnen. Die Bomben. Das Leben, das Geld, die Wohnung.
    Ja, das alles schwebt in tödlicher Gefahr. Aber was habt ihr denn erwartet, ihr Elenden? Worauf habt ihr gehofft? Auf die permanente Gewalt, die institutionalisierte Aggression, die legalisierte Dieberei? … Das alles hat hierher geführt. Und jetzt wundert ihr euch, dass sich die Weltmächte – die nicht moralisch, aber mächtiger sind – in Bewegung gesetzt haben?
    Eine Amok laufende Mordmaschinerie hört nicht mehr auf Argumente. Nur ein Wunder kann noch helfen.
    Am Mittag Luftalarm. Ich überquere die Kettenbrücke – ich unternehme diesen Ausflug zum ersten Mal seit meiner Krankheit vor einem Jahr – und erreiche gerade das Pester Ufer, als die Sirenen zu heulen beginnen. Ich kehre in einer Buchhandlung ein, verbringe die Stunde des Alarms unter Freunden. Zu meinem Erstaunen empfinde ich keine Angst, eher einen unsagbaren Widerwillen.
    Nichts geschah, sie kreisten irgendwo über Kanizsa .
    Wie lebt man in einer Stadt, die erklärtermaßen Zielscheibe von Bombenangriffen ist? Wie sonst auch? Das wäre gelogen. Natürlich herrscht in einer Millionenstadt, in deren Nähe Bomben fallen und andere Millionenstädte untergehen – gestern gab es Luftangriffe auf Sofia, drei in vierundzwanzig Stunden, ebenso auf Wien , vor zwei Wochen auf Zagreb usw. –, eine angespannte Stimmung. Alle warten ständig, dass eintritt, worauf sie warten. Die einfachsten Besuche müssen strategisch geplant werden – gibt es in der Nähe einen akzeptablen Luftschutzkeller?, usw. –, denn sobald die »Störflüge« gemeldet werden, verdunkelt sich die Stadt vollständig, die Straßenbahnen bleiben stehen, Bummler und Spaziergänger müssen stundenlang in fremden Toreinfahrten ausharren. Zu Hause sind wir in ständiger Alarmbereitschaft, mit Radio, Telefonverbindung zu Freunden, Wasser in der Badewanne, Sand neben den Türen, warmer Kleidung, gepackten Sachen für den Luftschutzkeller, Überschuhen am Bett. So leben wir und harren des Unausweichlichen.
    Währenddessen arbeite ich. Das überrascht mich selbst; ich bin kein »Held«, nein. Meine Phantasie ist zu lebhaft, als dass ich keine Angst hätte. Und doch arbeite ich, Tag für

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