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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Tag, nach meinem eigenen Arbeitsplan. Ob ich wirklich ganz bei meiner Arbeit bin, ist eine andere Frage. Gedanklich gewiss, mit meinen Nerven vermutlich nicht. Und das wird sich an der Arbeit dieser Monate vielleicht zeigen.
    Das ungarische Wappen wird von zwei schwebenden Engeln gehalten. Ich vertraue nur noch auf diese beiden Engel. Das ist allerdings keine Kleinigkeit.
    Kerényis Essay im Eranos über den antiken griechischen und römischen Hermeskult. Eine große Entdeckung: ein hervorragender Wissenschaftler, ein gründlicher, souveräner, reicher und guter Schriftsteller.
    Hermes war ein bösartiger, heimtückischer Gott. Ein Langfinger, geschwätzig, eine Art Politiker unter den Göttern.
    Die Deutschen haben Ungarn besetzt .

    Seit vier Tagen in Leányfalu . Wir kommen Ende März mit dem Schiff an, bei Sturm und Schneetreiben. Der März ist wirklich ein seltsamer Monat; das war er nicht nur für Cäsar. – Wir erreichen das unbewohnte Haus am Ende des Dorfes in der Abenddämmerung auf einem Bauernwagen, mit unserem Gepäck. Niemand empfängt uns, die Besitzer sind weit weg verreist. Das ungeheizte Haus erwartet uns mit eingeschlagenen Fensterscheiben und eisigen Zimmern. Holz gibt es im Hof, aber es ist feucht, das Feuer qualmt. Unter anderen Umständen wäre das alles unbehaglich, ungemütlich. Jetzt ist es mir ganz egal. »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker« , sagten Nietzsche und Dr. Goebbels. Wir sind einverstanden.
    Wir richten uns langsam im Haus ein. Das Essen lassen wir aus einer nahe gelegenen Dorfgaststätte kommen. Auf einem Regal entdecke ich Bücher, darunter auch einige lesenswerte. Deáks Sammlung von Briefen ungarischer Frauen aus der alten Zeit. Kata Forgáchs größte Sorge sechs Jahre nach der Katastrophe von Mohács ist, wie sie ihrem im Feld stehenden Mann das Ferkel zukommen lassen soll. Es schneit. Aus dem Fenster sieht man die Donau, die Nebelschwaden, sonst nichts.
    Nur ein Wunder kann uns noch helfen. Es gibt Wunder, aber ich glaube, dass man sie sich erst verdienen muss.
    Seit einer Woche habe ich nicht mehr gelesen, nicht mehr gearbeitet. In manchen Nächten schlafe ich erschöpft, wie erschlagen – man wählt seine Vergleiche, wie sie einem zufallen –, manchmal wache ich halbe Nächte im Dunkeln.
    Und doch sagt mir eine Stimme – wessen Stimme? Ich weiß es nicht! Vielleicht ist es der Schutzengel! –, dass der Moment noch nicht gekommen ist, guten Gewissens aus dem Leben zu scheiden.
    Wie schnell man sich an eine neue Lebenslage gewöhnt! Wie falsch es ist, dass man an dieses oder jenes – Wohnung, Umgebung, Bedürfnisse – »gebunden ist«! Das sind nur Worte. Die Wirklichkeit ist immer nur die jeweilige Wirklichkeit, sonst nichts. Und unendlich einfach.
    Seit drei Wochen in Leányfalu. Wir packen und brechen auf.
    Der Luftalarm am Vormittag des 13. April ereilt uns in Tahi. Wir stehen an der Landstraße, der Himmel ist bewölkt. In großer Höhe ziehen schwere amerikanische Bomber unsichtbar, mit furchterregendem Gedröhn in Richtung Budapest. Sie hinterlassen am Himmel Streifen wie die Linien eines Notenhefts.
    Eine Fähre bringt uns hinüber nach Vác ; es herrscht wieder akute Minengefahr. (Erst vor einigen Tagen ist der Salondampfer »Königin Elisabeth« unweit von hier auf eine Mine gelaufen und gesunken.) Bis sechs Uhr abends streifen wir in der Nähe des Bahnhofs umher. Viele armselige Juden mit gelbem Stern , Bettler und Gelegenheitsarbeiter mit gelben Sternen, die niemand beachtet. Die Menschen sind taktvoll bemüht, das Zeichen nicht zu bemerken.
    Am Abend schlafen wir in Gyarmat , in einem drittklassigen, im wahrsten Sinn des Wortes kolonialen Hotel. Im Morgengrauen von Gyarmat weiter nach Losonc.
    Heute wurde sämtliches Vermögen der Juden konfisziert . Alle anständigen Blätter sind verboten. Systematische Luftangriffe auf Budapest, es gibt viele Tote.
    Ich habe mein »Programm auf unbestimmte Zeit eingestellt«, wie es heutzutage im Radio oft heißt.
    Man löst sein Leben in einer bestimmten logischen Reihenfolge auf. Als Erstes verabschiedete ich mich von meiner Wohnung, die in unserer Abwesenheit von einer Bombe zerstört oder aber requiriert wird; dann – und das ist schon schmerzvoller – von meiner Arbeit und meinen Arbeitsplätzen. Dann von einem ganzen Lebensstil: Wir werden uns auf eine Art Nomadendasein einrichten, im Sattel leben müssen, wie es die alten Ungarn taten; und dann verabschiedet man sich von vielem anderen, das zum

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