Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Stock gestützt, Zigarre im Mund, als mache er Rast während eines Spaziergangs; so blickt er auf die Geschichte der Menschheit hinab.
Was er sieht, ist entsetzlich. Und doch nicht ganz hoffnungslos. Nur betrachten und erleben wir Menschen die Dinge aus einer solchen Nähe und über einen so hoffnungslos kurzen Zeitraum, dass wir nicht fähig sind, die wirklichen Dimensionen zu überblicken. Der Mensch hat sich sehr wohl entwickelt, sowohl in der unendlichen Zeit – in der sich das Säugetier aufgerichtet hat – als auch in der unendlich kurzen geschichtlichen Zeit, die wir kennen. Er hat wunderbare Dinge gelernt, erfunden, verwirklicht.
Aber dann folgen Zeiten – warum? –, in denen er mit Blindheit und Taubheit geschlagen zu sein scheint. Als habe er alles vergessen, was Ägypter, Chaldäer, Phönizier, Mauren, Europäer geschaffen haben. Eine solche Zeit haben wir auch heute. Der Mensch lebt nur für seinen Bauch, seine Instinkte, seine Leidenschaften.
Aber eines Tages werden ein paar elitäre Menschen die menschliche Gattung wieder aus diesem Dunkel emporheben. Ein Dante. Ein Kolumbus. Ein Paulus. Nur das zählt.
Warum bin ich ein »Städter«? Weil ich glaube, was Hendrik van Loon sagt: Es waren die Städter, die der Menschheit alles geschenkt haben, die Menschen der babylonischen, griechischen, römischen, karthagischen, hanseatischen und lombardischen Stadtstaaten: den Mehrwert, die Proportion, das Maß, die Ideen, das Schöne. Nicht die Schäfer, nein, und auch nicht die Rinderhirten. Die großen Sätze der Menschheitsgeschichte wurden nicht auf Weiden ausgedacht und ausgesprochen, sondern auf den Foren.
Dummheit ist vielleicht doch aggressiver als Habgier und Grausamkeit. Mit einem habgierigen oder grausamen Menschen lässt sich, sofern er ansonsten verständig ist, noch verhandeln. Ein dummer Mensch hingegen ist lebensgefährlich, da er unnahbar und unberechenbar ist. Man kann mit ihm nicht streiten. Es ist beinahe unmöglich, sich gegen ihn zu wehren; man muss ihn ertragen wie einen Schicksalsschlag. Seine Gnadenlosigkeit, seine Selbstsucht, seine Zähigkeit sind höllisch.
Aufgerieben zwischen Juden und Christen, vertraut mit der Seelenwelt der Verfolger wie der Verfolgten, beiden mit der gleichen Hoffnungslosigkeit lauschend … Nun ja, machen wir weiter, solange es geht. Aber nimmt mich eine Bombe ins Visier, ich werde nicht protestieren.
Die Geschichte, diese Krankengeschichte des Irrsinns …
Hin und wieder ein lichter Moment in diesem schwülen Chaos: Konfuzius, Buddha, Dante, Shakespeare, Arany, Goethe. Der Rest ist Wahnsinn, Langeweile und Schande.
Es kann nicht sein, dass das Leben nicht auch noch etwas anderes ist – irgendein Mehrwert, irgendetwas Bleibendes. Irgendetwas anderes als diese wimmernde Mühsal, diese sture Grausamkeit.
Luftangriffe auf Treviso. Und auf Vicenza. Auf Palladios Kirchen und Paläste.
Ich war unmittelbar vor dem Krieg zum letzten Mal dort. Habe vor dem Stadttor von Treviso einen Espresso getrunken und in Vicenza übernachtet. Fünf Jahre ist es her.
Gott, gib den Juden Kraft, die Verfolgung, die Qualen und Peinigungen zu ertragen. Gib ihnen Kraft, stark zu sein im Leben und im Tod.
Und wenn sie die Verfolgungen überleben, gib ihnen Kraft, nicht den Kopf zu verlieren, nicht ihrerseits zu Amok laufenden Verfolgern zu werden. Gib ihnen Kraft zu menschlicher Größe, zur Geduld. Denn Rache gebiert nur neue Affekte. Und vielleicht haben Huxley und die Oxford-Bewegung recht, wenn sie sagen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, den Feind zu besiegen: indem man ihn erträgt.
Ich denke an all die Menschen zurück, die in den letzten Jahren den Anschein erweckten, mir wohlgesinnt zu sein. Wie unendlich fern sie sind! Wie substanzlos diese Beziehungen waren, ohne jeden echten inneren Bezug! Nicht ein Einziger unter ihnen hat menschlich anregend auf mich gewirkt. Ist das meine Schuld? … Oder ist es das Schicksal aller zwischenmenschlichen Beziehungen? Die Schriftsteller mit ihrem krankhaften, neidischen Scharwenzeln! Die »Gesellschaftsmenschen«, die ihre Langeweile und Eitelkeit in meiner Gesellschaft spazierenführten. Diese »Diners« und anschließenden Abendgesellschaften, dieses leere Politisieren, diese heuchlerischen Streitgespräche, dieses Positionbeziehen! Ich werde nach Budapest zurückkehren, aber keinen von ihnen aufsuchen. Ich vermisse auch keinen von ihnen. Das »literarische Leben«, diese vor Neid schäumende, verleumderische Bagage … Was
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