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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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zu sein. Es ist eine Schande zu leben.
    Und doch: Wer sich inmitten dieser Gräuel nicht eine Art Gleichgültigkeit in seiner Seele bewahren kann, der kann nicht gerecht bleiben und somit weder anderen noch sich selbst helfen.
    Das europäische Judentum hat seinen Separatkrieg verloren, nur ein Wunder kann ihnen noch helfen. Aber Juden glauben nicht an Wunder. Juden glauben überhaupt nicht: Darum erleiden sie jeden Schlag so verzweifelt, so resigniert.
    Es ist klar, dass die Menschenmassen, die jetzt aus ihren Wohnungen getrieben, zu Zehn-, Zwanzig-, Dreißigtausenden in ärmlichen fensterlosen Hütten untergebracht, jeder Möglichkeit eines Besitzes, eines Einkommens, einer Arbeit beraubt, ihrer Menschenwürde entkleidet werden, dass diese Menschenmassen von jenen, die sich das alles gegen sie ausgedacht und ihnen angetan haben, nicht als Augenzeugen am Leben gelassen werden dürfen, sollte sich das Glück wenden. Ich fürchte, das Schlimmste wird eintreten; das, was in Polen und Rußland mit den deportierten österreichischen, deutschen, slowakischen und polnischen Juden passiert ist.
    Ich lese Heltais Der stumme Ritter . Ein makelloses, in sich geschlossenes kleines Meisterwerk. Anspruchsvoll und bescheiden.
    Rousseaus Confessions . Welch glücklicher, schwärmerischer, gelöster Ton! Als würde nach viel Geschwätz endlich jemand vom Wesentlichen reden. Es gibt für einen Schriftsteller keine größere Gnade, als wenn sich – selten genug im Leben und bei der Arbeit – der Ton und das Thema gegenseitig bedingen, aufbauen, stützen, formen.
    Diese Kleinstadt ist muffig. Manchmal öffne ich das Fenster: Ich lüfte nicht das Zimmer, sondern die Straße.
    Heldentum! Wie viel darüber geredet wird.
    Dabei ist echtes Heldentum meist nicht eine einzelne heroische Geste. Echtes Heldentum ist meist die Summe zahlloser kleiner, geduldiger und konsequenter Momente, die alle nach einem einzigen moralischen Ziel streben.
    Ich habe die zweiundsechzig Manuskriptseiten der Schwester gelesen … Das war seit zwei Monaten die erste geistige Tätigkeit, zu der ich die Kraft fand.
    Ich bin nicht gesund, meine Zukunftsaussichten sind trüb. Ich verstehe Gottes Absichten nicht. Aber ich bin noch am Leben, und deshalb muss ich, so hoffnungslos und erniedrigend meine Lebensumstände auch sein mögen, meine ganze verbleibende Kraft der Arbeit widmen. Ich muss diesen Roman beenden. Wenn möglich, Gedichte schreiben … Ich darf mich auf nichts anderes als meine innere Stimme konzentrieren. Der Krieg, der Terror, das sind alles nur Varianten des Schicksals, wie es auch die Krankheit ist. (Krank bin ich auch, alles explodiert auf einmal, in mir und um mich herum.) Und doch, auch halbseitig paralysiert – die Welt, in der ich lebe, ist halbseitig paralysiert! – arbeiten, beenden, was ich angefangen habe, jeden Tag zwei, drei Stunden finden, in denen ich mich zum Lesen und Schreiben zwinge – bis zum letzten Augenblick.
    Kalter Mai. Ich zittere im Sonnenschein.
    Mit den Menschen kann man nicht reden, so wie man auch mit Betrunkenen oder Geisteskranken nicht streiten kann: Die ungarische Mittelklasse hat sich an der Judenfrage berauscht und den Verstand verloren. Die Russen stehen bei Kőrösmező, die Engländer und Amerikaner überfliegen Budapest, aber diese Gesellschaft will nicht, kann nicht anders, als rasend und wutschnaubend über die Juden herzuziehen.
    Doch zur Arbeit bedarf es nicht nur eines Willens. Es bedarf auch eines Lebensstils, einer Atmosphäre … und das alles fehlt.
    Und dennoch, bleib stärker als dein Schicksal: Ersetze den Lebensstil, die Atmosphäre, ersetze alles durch deinen Willen!
    Der Mensch, eine Seuche.
    Die Geschichte der Armenier von Musa Dagh findet hier bei uns statt, Tag für Tag, in jeder ungarischen Provinzstadt. Der Schauplatz der Deportationen ist nicht Mesopotamien, es sind in Stadtnähe gelegene Ziegelfabriken und Ähnliches; von dort geht es nach Polen. Tagtäglich erlebe ich die Wiedergeburt von Werfels Roman: So wie Enver Pascha und die Türken die Armenier ausgerottet haben, da »Rechtgläubige nicht mit Christen zusammenleben dürfen«, so treiben die rechtgläubigen Nationalsozialisten die Juden, mit denen sie nicht in einem Land leben dürfen, aus ihren Wohnungen, berauben sie ihres Besitzes, ihrer Freiheit und schließlich wohl auch ihres Lebens – den Mördern bleibt gar keine andere Wahl! Warum? Weil es Juden sind, weil es »Feinde« sind, weil es »Fremde« sind, weil … und am

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