Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Leben gehört hat. Was bleibt, ist die totale Freiheit, die Aussicht auf das Überraschende, das Unerwartete und den Tod.
Am letzten Abend in Leányfalu ließ ich den Tierarzt kommen und bat ihn, meinen Hund Jimmy zu töten. Er war schon alt, sehr krank, er hätte ein solches Wanderleben nicht mehr ertragen. Er wurde mit Strychnin getötet, starb nach zwei Minuten. Er war von vornehmem Wesen, vornehm ist er auch gestorben: fiel der Länge nach hin, grazil, mit der schönen Bewegung einer Pawlowa oder eines Nijinski am Ende eines Tanzes. Ich begrub ihn im Garten unter einem jungen Marillenbaum.
Ich lese Tschechows Erzählungen. Wie »solide« diese Arbeit doch ist, wie aufrichtig; sie hält den zersetzenden Angriffen der Zeit stand.
Das Leben ähnelt eher einem Kampf als einem Tanz – sagt Mark Aurel. Aber das ist nicht sicher. Meistens ist das Leben auch kein Ringkampf, sondern ein qualvolles Kreiseln inmitten gefährlicher Situationen, auf Zehenspitzen, nach Tänzerart.
Ich lebe in einem Erdbeben, inmitten einer Revolution. Rechtssysteme, Häuser, Städte und Menschenmassen erlöschen. Vorlieben, Vereinbarungen verglühen in den Flammen wie Strohhalme. Menschen gehen schuldlos zugrunde, wie das in Revolutionen gang und gäbe ist: Ihre Schuld besteht nicht darin, dieses oder jenes getan oder gesagt zu haben, ihre Schuld besteht einzig darin, dass sie waren und sind. Und das ist eine schlimme Schuld.
Ich halte es mit dem Helden von Zauber , der am Ende von sich sagt: »Ich habe die Menschen kennengelernt und will keinen Zauber mehr.« Wenn die ungarische Sprache und der geistige Anspruch, der die ungarische Literatur hervorgebracht hat, zugrunde gehen, wozu soll ich dann noch leben? Ein Leben ohne Aufgabe hat nichts Spannendes.
»Etwas Gutes tun?« Das ist meistens einfach. Etwas Wahrhaftiges tun, ohne sich zu sträuben, zu klagen, in rührseliges Gejammer auszubrechen: das ist schon schwieriger. Ein Arzt, der vor dem geöffneten Bauch eines Patienten in mitleidiges Wehgeschrei ausbricht, ist ein schlechter Arzt.
Alles, was jetzt geschieht – jetzt? Fortan, bis in den Tod! –, mit den Augen eines Richters und Verurteilten zugleich betrachten!
Diese Kleinstadt ist die Strafe. Im Moment noch eine milde Strafe. Staub, gesichtslose Häuser, bröckelnder Verputz, und die erste Hitze verbreitet einen charakteristischen Gestank, den Körpergeruch nicht kanalisierter Kleinstädte. Das ist schlimmer als Armut. Das ist Proletenhaftigkeit.
Bleib ein Dandy, im katholischen und im literarischen Sinn des Wortes, auf dem Schafott wie im Internierungslager; also gläubig und unversöhnlich. Sei anders , was auch geschehen mag! – das ist deine Demut, dein Dienst, das ist oberstes Gebot.
Man kann einen Menschen für seine Taten und Worte bestrafen; aber man kann ihn nicht für seine Herkunft bestrafen. Wer für seine Herkunft bestraft wird, dem geschieht ein Unrecht, und jeder, der noch etwas auf sein Menschsein gibt, wird sich mit ihm solidarisieren.
Tiefe, taube Stille. Auf alles vorbereitet sein, ohne dass diese Bereitschaft irgendeine Anspannung in dir auslöst – das ist das ganze Geheimnis.
Nichts ist verdummender und entmutigender als die Geschichte beziehungsweise das, was man »historische Zeiten« nennt. 1910 etwas ersinnen und in vollendeter Form zum Ausdruck bringen, was die Welt zu einem vernünftigeren Ort machen wird: das ist ein echtes historisches Ereignis. Alles andere ist Dreck, Chaos, Blut, Leid, Dummheit.
Sich damit abzufinden, dass man leiden, sterben muss, ist nicht so schwer. Sich damit abzufinden, dass auch unsere Liebsten und Freunde leiden, Verfolgungen ausgesetzt sind und sterben, das ist die schwere, die übermenschliche Lektion. Aber auch sie will gelernt sein.
Wie Klatschmohn in einem eintönigen Getreidefeld, so leuchtet in einem einfachen Leben – in Form irgendeiner jähen Zwangshandlung – die Geisteskrankheit, die latente Neurose auf.
Eine der Lehren aus der Revolution besteht für mich darin, dass sich der Mensch um seine Bequemlichkeit mehr Sorgen macht als um sein Leben.
Dickens , Die Pickwickier . Der Roman, dessen neue Folgen die Sterbenden so gespannt erwarteten, dass sie nicht einmal zu sterben bereit waren, dessen Abonnenten der Postkutsche mit den Fortsetzungsheften meilenweit entgegeneilten … Einer der größten literarischen Erfolge überhaupt.
Nichts altert so schnell wie ein Welterfolg. Es ist kaum hundert Jahre her, dass Die Pickwickier erschienen, und doch
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