Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
bestellt; sie kann buchstäblich keine Speisekarte entziffern, ich mußte 4 Wochen lang Abend für Abend die gesamte Karte vorlesen; damit sie flirtend-kakelnd-schelmisch noch mal 10 Minuten mit dem jeweiligen Kellner quakeln konnte – auch das Essen war ihr nicht bekommen. «Jetzt bin ich todmüde.» Wie ein einzelliges Lebewesen wird genau das in genau dem Moment getan, wonach einem ist: schlafen, essen, trinken, jaulen, kraulen, gekrault werden. «Ach, Daniel, mein Daniel» – wie eine Fernfahrerbraut, Schuhe aus und Beine auf dem Armaturenbrett, schläft sie an Daniels Schulter im donnernden Lastwagen.
Ankunft Ranch. Autowechsel im Dunklen (der traum-schöne Sonnenuntergang über dem See wurde garnicht bemerkt). Daniel will auf «dem» Ranch bleiben. Abfahrt. «Licht willst du, daß ich anmache?» Beleidigt über meine «Belehrung», daß man im Dunkeln besser mit Licht fährt. «Hast du den Schlüssel?» Nein. Zurück. Daniel nicht zu finden. Schließlich findet sie Daniel und den Schlüssel.
Nach 300 m: einen Platten. 20minütige Wort-Diarrhöe mit dem Unterton: «Du fährst Jaguar, und ich habe kein Geld für Reifen.» Ab in die Nacht – sie kommt hüftschwingend und Äug’chen verdrehend wie vom Auto-Strich zurück mit einem jungen Mann, der ihr im Dunklen den Reifen wechselt. Vorbei donnert, aus dem Nichts auftauchend, Daniel. Ganz der «Grundbesitzer», die Hände in den Hosentaschen neben dem Jungen, der bäuchlings das Auto repariert. «Hast du Geld? Er sagt zwar, er will nichts, aber …» Der Bruder als lebende Brieftasche zückt dieselbe, den 2. Reifen dieses Tages zahlend. Ab Richtung Chapala. «Ist das hinter uns Daniel?» – als könne man an den Scheinwerfern erkennen, wer hinter einem fährt. «Ich habe den Hausschlüssel nicht mehr.» «Wozu steht eigentlich der Jeep bei dir in der Auffahrt?» «Der gehört Daniel.» «???» «Aber der hat amerikanische Papiere, so darf Daniel ihn nicht fahren.» «Und wieso hat Daniel ihn gekauft?» «Er dachte eben … nun steht er da, für 6000 Dollar, seit 2 Jahren.» «Und wieso fährst du ihn nicht über die Grenze und verkaufst ihn, du bist doch US-Citizen?» «Er darf ihn nicht fahren, nicht mal besitzen – und ich kann ihn nicht fahren, er hat keine Automatik.» Im übrigen habe sie jetzt Kopfweh, sie müsse zur Apotheke, das Essen, das Bier, auch sei sie todmüde. Vor der Apotheke parkt – Daniel. «Er fährt dich jetzt nach Hause, ins Hotel, ich trau mich nicht mehr, der Reifen, es ist dunkel, ich habe keine Papiere und keine Versicherung …»
Ich werde umgeladen, wie das Heu aus dem Laster vor dem Hotel rausgeworfen, ich habe Hunger (das Essen hatte die «Qualität» einer Vorspeise und den Preis von 3 Gängen), im Hotel gibt es nichts mehr: Ich sitze unter einem Brecht-grünen Vollmond, der im (total vergifteten) Lake Chapala ertrinkt, und rauche meine letzte Davidoff, trinke im Plastikzahnputzbecher den letzten (heimlich mitgeschleppten) Amaretto. Happy days in Chapala .
«Morgen um 9.30 hole ich dich ab – ich muß allerdings Reifen kaufen, zum Zahnarzt, zur Bank, Schlüssel nachmachen lassen – und dann fahre ich dich nachts zum Flugplatz, zur Maschine nach San José – – –»
In der Nacht wurden im Schlafzimmer – unterm Bett – 6 junge Schäferhunde geboren …
3. Mai
Kultur nachholen im Galopp wie ein Verdurstender. Gestern Vortrag in Kiel und bezaubernde Bummelfahrt durch das prunkend-blühende Schleswig-Holstein, das von den gelben Zungen der Rapsfelder durchleckt ist, vorbei an blanken kleinen See-Augen und durch Dörfer in Blüten-Kissen.
Das Wochenende im explodierenden Berlin, Ku-Damm voller Ostler und die Linden voll Westler. Sensationelles Gefühl über dem Potsdamerplatz – wo russische und DDR-Uniformen verkauft werden! –, zur Friedrich-Straße. Zu Fuß die Linden entlang durchs Brandenburger Tor (wo just an dem Tag die Mauer – an der so viele starben! – per Dampframme wie bei einem Volksfest eingerissen wurde).
Abends Schaubühne, Peter Stein, Reinhardt-gefällige Inscenierung von Bernard-Marie Koltès’ letztem Stück, eine z. T. peinlich-schwülstige Pseudo-Genet-Ballade auf einen Massenmörder, dem er wohl mehr auf den Schwanz als ins Hirn sah. Gut, Kunst ist a-moralisch: Aber diese Äug’chen werfende Apologie hat etwas Parfümiertes.
Wie schockierend-radikal dagegen, bewegend und auch zum Widerspruch aufreizend das Kresnik-Tanz-Theater «Ulrike Meinhof» letzten Freitag in Bremen: auch da
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