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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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einer, der sich gegen die Gesellschaft bis zu Gewalt und Mord stellte (und ungerecht ent-schuldet wird durch die Art der Inscenierung, die das Publikum auf ihre Seite zu ziehen versucht): aber tief berührend; vielleicht, weil man selber Teil davon war und ist. War, weil ich die Meinhof gut kannte, Samba mit ihr tanzte in des grauslichen Röhl Jugendstilvilla, und letztlich zu der auf der Bühne Dix-grimmig karikierten Pelz- und Schickeria-Welt gehörte; und wieder nicht.
    Obszön dabei die Wempe-Werbung im Programmheft: «Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend» und Reklame – ausgerechnet, Pelze sind die Dix-Kostüme der «Gesellschaft» für Luxus-Pelze: «Ihr Auftritt in Pelz». Parodie. Und schließlich das Thema, dieses Schicksal konterkarierend.
    3. Mai
    Statt triumph and tragedy decor and parody : Pausenflucht aus Robert Wilsons parfümierter «Black-Rider»-Inscenierung; vom radical chic Susan Sontags ist nur der chic geblieben – ein Hauch von Joop, na gut: Yves Saint Laurent über dem Ganzen. (Peter Stein: «Diese schwule Parfum-Flasche kommt mir nicht ins Haus.») Nicht slap-stick , sondern Kasperle-Theater; das Publikum rast, wenn eine Flinte falsch losgeht oder des Teufels Ohren (elektrisch) rot leuchten. Sie werden verkindert. Zeichen statt Be-Zeichnung.
    10. Mai
    «Ich kenne das Vergnügen, nichts zu tun, absolut nicht. Sobald ich kein Buch mehr in der Hand habe oder nicht davon träume, eins zu schreiben, überkommt mich eine solche Langeweile, daß ich laut schreien möchte. Das Leben erscheint mir nur erträglich, wenn man es übergeht»: Flauberts Wunderbriefe an George Sand! Jeder Satz ein Hieb, eine Wahrheit – sein Lebensekel, sein Demokratieverdruß, sein Fortschrittsspott (großartig über die Pariser Weltausstellung und die künftige «moderne» Welt), sein Ablehnen zu reisen, seine Ästhetik.
    Lese das als Vorbereitung: Morgen geht es auf die nächste ungeliebte Reise; nach Frankreich «zu» George Sand.
    Zuvor das Leipzig-Wochenende katastrophal; die Lesung, der ich so entgegengebangt hatte, fand garnicht statt: 1 Hörer war gekommen – Strumpfhosen statt Kultur, Pornovideos statt Bücher, Bananen statt Bach: Die DDR steht Kopf, Leipzig ein einziger Basar mit falschen Persern und Tinnef und Yoghurt und BILD; die Katastrophe (u. a. weil niemand mehr die eigenen Waren kauft) ist zu riechen.
    Die Kunstausflüge – z. B. zu Tübke, zu Luther und Cranach nach Wittenberg und zum Wörlitzer-Park – konnten mich nicht trösten noch sänftigen.
    Kampen, den 9. Juni
    Das große «Loch» im Tagebuch hat mehrere innere und äußere Ursachen.
    Gleichsam aus dem fahrenden Autozug Avignon – Hamburg in Frankfurt rausgesprungen, per Taxi-Flugzeug-Taxi ins bei Prag gelegene Schloß D. zur Tagung der Gruppe 47, wo ich (morgens um 5 im Schlafwagen aufgestanden) bis 4 Uhr nachts «dabei» sein mußte, d. h. präsent als Subjekt (kritisierender Autor) und als Objekt. Fühlte mich sogar wohl im Kreise freundlicher Kollegen wie Jürgen Becker, Peter Schneider oder Peter Bichsel, auch mit dem unseren «bösen Briefwechsel» nicht erwähnenden Grass.
    Dennoch: Ich habe, jedenfalls wissentlich, das 1. Mal unehrlich geschrieben, mein «witziger» Bericht über die Tagung ist gefälscht im Sinne von geschönt – ich fand die meisten lächerlich, das Ritual ausgeleiert bis überflüssig: Feuerzangenbowle, wo Erwachsene noch mal Schüler spielen, obwohl sie alle (Lebens-)Zeugnisse in der Tasche haben: Der alt gewordene Höllerer setzt sich stumm wie ein Schüler hin, wenn ihn der uralt gewordene Hans Werner Richter anblafft, und Autoren, an deren Brust so viele Preise klappern wie Orden an der eines sowjetischen Marschalls – Grass, Christoph Hein –, lesen mit zager Stimme Texte vor, um sich ängstlich das Urteil (z. B. von mir) anzuhören. Es hatte etwas Läppisch-Gespenstisches, und Richters «Drohung», er mache weiter, treibt einem die Haare zu Berge.
    In Hamburg schon den Ostberliner Besuch im Hause, 2 Tage später hierher nach Sylt.
    Der Besuch des alten Kommilitonen und seiner sympathischen Frau stellt einem geradezu die Lebensfrage: Ist es nicht – DAMIT verglichen – doch ganz gut gegangen: Sie wissen nicht, was Avocados sind, können nicht mit dem Fischbesteck essen, haben noch nie eine Auster gesehen und kennen den Namen Botero nicht. Alles keine Synonyme für Glück; was ist schon Glück? Aber doch Chiffren für ein farbigeres Leben, ein bißchen Glitzern und Freude, die doch AUCH

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