Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
dazugehören sollte? Wozu GIBT es denn Tokio und San Franzisko, New York oder Burgund, Paris oder Marokko – – – wenn nicht «für mich», damit ich es sehe? Mehr noch: Gibt es es ÜBERHAUPT, wenn ich’s nie gesehen habe (gleichsam eine Schopenhauerfrage)? Immer nur Trabi, nie Jaguar?
Das hat noch 2 weitere «Problemkreise»: zum einen die Verkürzung auf «Wohnung ohne Bad» (während ich hier in meiner Ferienwohnung zwei Bäder habe, was sie so wenig verstanden wie meine Frage nach einer Vorspeise oder mein Salat-Dressing, dessen Mischung sie fasciniert zusahen wie einer Zirkus-Nummer). Zum anderen: Dieses grau-stumpfe Leben, kein Mehl und keine Hosen und keinen Whisky, hat sie zwar ehrbar bleiben, aber phantasielos werden lassen. Mein Freund Schneider ist charakterlich eine Nr. 1 – aber er sieht keinen Dix an der Wand und kein Besteck auf dem Tisch und keine Blume in der Vase. Er liest an 2 Flaubertbriefen so lange wie ich an einem Buch und «studiert» 3 Tageszeitungen so lange, wie ich zum Schreiben eines ganzen Artikels für eben die brauchte. Dieses Leben ohne Farbe, Form und Reiz hat ihre Aufnahmebereitschaft nicht geschliffen – sie gehen spazieren und finden das Meer nicht (das man von meinem Fenster aus sieht). Sie sind viele Jahre älter – und die Geschwindigkeit, mit der ich ihnen wegen seiner Wieland-Ausgabe Reemtsma zugeführt und wegen seiner Voltaire-Ausgabe mit Leuten in Paris verkuppelt habe, nimmt ihm den Atem. Er kann solche Editionen – vorzüglich wie nirgendwo sonst – betreuen; aber was dann aus ihnen wird, weiß er garnicht. Insofern doch etwas für tote Seelen.
Kampen, den 22. Juni
Bei der Christa-Wolf-Debatte (bei der ich fürchte, der FAZ-Junge hat nicht ganz unrecht; jedenfalls hat er gut argumentiert) besonders interessant die schamlose Rolle von Jens; dabei meine ich nicht so sehr die falsche Position, man dürfe nicht urteilen, wenn man nicht dort und dabei gewesen (also darf man nicht über Schiller, Wallenstein und vor allem nicht über die Nazijahre urteilen?!), sondern das peinliche ich will ran, ich will ran, coûte que coûte . Keineswegs trat er aus dem STERN-Beirat aus, als man seinen Sohn dort (rechtens) wegen des Einbruchs im Hause des toten Uwe Johnson brandmarkte und entließ; keineswegs tritt er aus der Kisch-Preis-Jury (des STERN, wo er neben Joachim Fest sitzt, in dessen FAZ er schärfstens angegriffen wird) – alles egal, Hauptsache gedruckt. Ein Charakter wie ein Bürstenhändler, den man zur Vordertür rauswirft und der sich 5 Minuten später zur Hintertür hereinwinselt. Auf Seite 3 der letzten ZEIT greift Greiner ihn erbittert an – und auf Seite 5 steht ein Artikel des Herrn Jens; das ist nicht «Liberalität», sondern Juste-milieu – er hätte seinen Artikel zurückziehen müssen.
Kampen, den 27. Juni
Seit Sonntag habe ich den Roman begonnen. Unzufrieden. Nur der Vorgang des Schreibens macht Spaß – viel mehr als journalistisches Schreiben; es scheint mir, als sei es auch viel weniger Arbeit – mir weizenhelle Augen einer Person auszudenken als 600 Seiten zu lesen, um eine Rezension zu schreiben – – – was für ein Unterschied. Der Produktionsprozeß macht also Spaß – das Produkt (vorläufig) noch nicht.
Besonders stark erlebe ich, wie die Welt versinkt: die Aufgeregtheit über jede Tagesschau, jede Zeitungsnotiz, irgendeinen Streit um Christa Wolf in den diversen Feuilletons: Es interessiert viel weniger. Man baut sich seine eigene Welt, und beim Fahrradfahren am spätnachmittäglichen Watt ist es spannender, wie die nächste Scene weitergeht, am nächsten Tag, sogar aufregender, sich Haarfarben, Münder, Namen auszudenken, Moden der Epochen zu erinnern, Schlager heraufzubeschwören, Spruchbänder und Transparente aus dem Gedächtnis zu kramen – als sich über die demnächst bei der DEFA oder im DDR-Theaterwesen Entlassenen zu ereifern.
Kampen, den 12. Juli
Gestern «Kir Royal» an der Nordsee – Champagner bei meinem neuen Flirt, der (sehr hübschen) Brinkmann-Witwe in ihrem ungewöhnlich schönen, hoch-edel eingerichteten Haus, dann Champagner bei mir und dann gegenüber an der Bar – und es ging NUR um die passende Lederfarbe der Jaguarsitze, das dumme Personal und Pippi Münchmeyer und Puppi Boenisch und Peppi von Monaco und «neulich in London» und «kürzlich in Kopenhagen»: obszön. Das Komischste: ich immer mit, ich badete förmlich in dieser Ordinärheit – es war wie selbstproduziertes Badedas, ich schwamm auf
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