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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Besteck; ich sitze da und marktschreie «Gallé» oder «Majorelle» oder lasse die Leute nicht lässig selber das Besteck betrachten, sondern belehre sie, daß es von Heinrich Vogler entworfen ist. Zeichen der Einsamkeit (daß ich mit den Menschen nicht mehr, dafür mit den Dingen spreche)?
    Freitag wunderschönes Konzert des Alban-Berg-Quintetts mit einem beeindruckend-mathematischen Schnittke, der mir besser gefiel als der «obligate» Mozart, und einem unglaublich virtuosen Bartók. Danach mit Gerd in der vor Reichtum glitzernden Hamburger Innenstadt essen.
    Antje rührend: Ich hatte einen Christie’s-Katalog mit unglaublich schönen Rivera-, Orozco-, Siqueiros-usw.-Bildern da – – – – will mir das Geld für einen besonders schönen Rivera leihen, gar schenken. Kommt nicht in Frage.
    Übrigens noch immer stark unter dem Eindruck der Kantorowicz-Tagebücher, die zum einen gerade jetzt besonders aktuell sind als Röntgenbild dieser DDR-Verkommenheit und Bonzokratie; die zum anderen einen ewig grämlich sich beklagenden, zurückgesetzt fühlenden, von Preisen, Ehrungen, Tribünen, Akademiemitgliedschaften ausgeschlossenen Nörgler zeigen (mußte manchmal SEHR an mich und MEINE larmoyante Nörgelei denken!!); hinterläßt den Eindruck nicht einer radikalen Kritik an der SACHE des Sozialismus (oder der Philosophie), sondern des sich beklagenden Meckerers, der, hätte man ihn nur auf ein paar Ehrentribünen gebeten und ihm ein paar Funktionen gegeben, ein folgsamer Stalinist gewesen wäre. Zumal er ohnehin die Russen (weil sie ihn in ihrer Zeitung schreiben ließen) und Stalin viel zu positiv sieht, sogar den Slansky-Prozeß entschuldigt. Ein Mann, der sich maßlos überschätzt, der die Zeitläufe anklagt, die ihn davon abgehalten hätten, der große Schriftsteller zu werden – statt sich hinzusetzen und den Roman zu schreiben, von dem er nur schreibt. Zwischen «ich bin ausgebrannt» und «ich kann nicht mehr» werden schicke Ferien in Ahrenshoop, auf Hiddensee oder in Schierke gemacht (wo nur Privilegierte hinkamen) – und zwar mit ständig wechselnden Damen. Er war nicht ausgebrannt (dann kann man auch nicht ficken) – sondern es war nichts in ihm drin.
    14. November
    Gereiztheit, Empfindlichkeit, Nervosität und Angst.
    Vielleicht zerreißt mich ja auch die politische Umstülpung mehr, als ich mir klarmache, auch die Frage, wieso ich selber nicht früher radikale Fragen – an Hermlin oder Arendt oder Heym – gestellt habe. Ich habe sie doch alle vor kurzem zu Tisch gebeten? Da bricht jetzt wie nach einem Erdbeben so viel auf und zusammen, mal nur Krusten, mal nur Erdverwerfungen, aber auch schon Abgründe. Mehr und mehr wird mir dies Zu-Schweigen und Nicht-Rechenschaftgeben von all denen zuwider. Nur: wieso eigentlich erst jetzt?
    25. November
    Totensonntag und Jochen Munds Geburtstag.
    Gestern höchstlich irritierender Ibsen-Abend: Während auf der Bühne die (schlechten, weil essayistischen statt dramatischen) Dialoge um das Thema «Ich war also nur eine Episode für dich», saß vor mir – – – – der Rabe. Noch immer wunderschön, wenngleich älter geworden, gar mit grauen Strähnen, knabenhaft, kleine elektrische Ströme gingen hin und her; mir ging selbst die Schönheit seiner Fingerkuppen, die ich matt beim Klatschen schimmern sah, unter die Haut – und das alles ist ca. 20 Jahre her, da ich in seine Kommune zum Frühstück Marmelade und zu aller Entsetzen einen Löffel dazu mitbrachte und seine damals wallend-langen Haare in Kampen beim Radwechsel an Bernds VW anschraubte … Beunruhigend, wie mich meine «Vergangenheit» plötzlich einholt – die schöne Ursula ruft nach Jahrzehnten an und gurrt wie einst; ich treffe heute morgen den Stier im Schwimmbad, nachdem ich vor wenigen Tagen seine Frau dort traf (mindestens 15 Jahre her, diese Triole, die amüsant, verrückt und sexy war); demnächst sitze ich auf einem Podium im Ostberliner Kulturbund-Club, in dem ich seinerzeit Mittag aß.
    Kampen, den 31. Dezember
    Ein schwieriges Jahr geht zu Ende – ein noch schwierigeres steht bevor.
    Die «Bilanz» von 1990 ist nicht schlecht: Der Roman ist fertig; einiges Gute stand in der ZEIT; Band 9 meiner «Gesammelten Werke» ist erschienen; allerlei Radio- und Fernseh- und Vortragssachen waren nicht, um sich zu schämen. Dazu allerlei journalistische Projekte wie die Uwe-Johnson-Reise oder das Sahl-Interview.
    ABER: Meine Stendhal’sche «Vorangst» zittert bei jeder Fernsehnachricht über den

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