Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Bloch. Gewiß, wozu 1 Meter Lessing, 2 Meter Brecht, 3 Meter Thomas Mann, gar Dos Passos, Baldwin oder Malcolm Lowry. Nur: Jeder von denen – und Dutzende andere – hat doch seine Spur in mich geschliffen? Da war’s eine Kisch-Edition und dort der Besuch bei der alten Dame Feuchtwanger. Hier ein Andersch-Nachruf und dort die «Entdeckung» von Anders. Vieles habe ich verlegt, gefördert, bevorwortet oder eben darüber geschrieben. Komme mit mir nicht ins Reine.
17. Januar
Es ist also Krieg (seit gestern nacht wird der Irak bombardiert). Ich hatte gehofft, das Wort bis ans Ende meines Lebens nur noch als Abstractum hören zu müssen. Dies wird gewiß der übelste, mörderischste und folgenreichste seit dem 2. Weltkrieg – – – wenn nicht gar, schließlich als ein Weltkrieg, schlimmer.
Entsetzlich dabei die Mischung aus jieperig und schmatzendgleichgültig, die «veröffentlichte» und die «normale» Öffentlichkeit: 1 Tag VOR Ausbruch der Schießerei brachte die WELT Fotos von Explosionen in der Wüste, wo noch garnichts explodiert WAR – bei näherem Hinsehen und Lesen der Unterzeile stellte sich das als Montage raus: So WÄRE es, wenn es geschieht …
Auch die TV-Nachrichten waren wie Hochrechnungen – alle Sender quälten sich über endlose Runden von «Experten»-Gesprächen mit der unausgesprochenen Logik: Bitte bleiben Sie, liebe Zuschauer, eingeschaltet, bis wir ENDLICH die bombardierenden Flugzeuge zeigen können. Getreu dem von Präsident Bush formulierten Motto: «Alle Alliierten sind SCHARF aufs Losschlagen.»
Derweil die «normalen» Bürger entweder die ALDI-Regale leerkaufen oder, höchst empört, über kleine Verkehrsstaus wegen der jugendlichen Demonstranten, in ihren Champagner-Austern-Lachs-Imbiß eilen. Da stehen sie, in feinen und möglichst bodenlangen Pelzen (bei strahlendem kalten Winterwetter in Hamburg), und schlürfen ihr Sektchen oder Bierchen und schmatzen und schlabbern und schämen sich nicht. Vielleicht muß der Mensch ja mittags was essen – aber er MUSS nicht da und das. Die Mischung aus Dickfelligkeit und Pampigkeit – drohende Fäuste aus den blockierten Autos, gestern wäre ein «Gourmet»-Lieferwagen fast vor Wut IN die Menge reingerast – ist ekelhaft und wohl doch sehr deutsch.
31. Januar
Im Kopf nur den Entsetzenswirbel über den Krieg (und das gigantisch erfolglose Affentheater der Amerikaner). Kaum einzuordnen die «neue Kriegsmethode» des Fernsehkriegs, bei dem in die Bomben Kameras eingebaut sind («Ende der Sendung», wenn das Ziel erreicht).
Hotel Sacher, Wien, den 5. – 7. März
Etwas lächerliches und ziemlich un-charmantes Drehtüren-Kultur-«Festival»: Vor meinem Vortrag sprach Sarah Kirsch, nach mir Rühmkorf; man wurde abgeholt («Ich bin nur ein jobbender Student, habe sonst nichts mit der Veranstaltung zu tun» – kannte einen also garnicht), 3 Minuten Gespräch, 2 Minuten Fragen (frappierend üppig, inklusive 1 Sacher-Nacht, entlohnt), 5 Minuten small talk bei Tasse Kaffee (dazwischen die übliche Idiotin, die sich – «ich lese alles von Ihnen» – uralte Zeitungsartikel signieren läßt), dann rauf aufs Podium – runter: «Danke, großartig», Taxi, weg. Einerseits froh, daß keine Verpflichtung zum üblichen «kleinen gemeinsamen Imbiß», andererseits auch verblüfft über die rohe Formlosigkeit.
Abends dann in Ruhe mit dem sehr sympathischen, virilen Ransmayr (klettert 5 – 7 Stunden in den Bergen!), mit dem ich mich nicht ästhetisch am Teetisch unterhielt, sondern z. B. lachend über das sogenannte «normale Leben» – Geld (er hatte falsche Berater und hat Unsummen verloren), Steuern, Wohnung; wobei er, als kennten wir uns Jahre, so genau und gut wie Gerd Schneider beim letzten Berlin-Abend meine Qual von Hausverlust, Umgebungs-Entzug, Bücher ja oder nein behalten verstand.
Flimm, zufällig im selben Restaurant Schnattl, von mir belehrt, mit wem ich da sitze, stürzt sich mit blind-bietenden Angeboten («Egal, ob’s was wird – das Thalia-Theater zahlt Ihnen …») auf den nüchtern-abwehrenden Ransmayr.
9. März
Sissy statt Lenin: Das kann man zum Motto des «neuen Ungarn» setzen; die Lenin-Straße wird umgetauft – das durchgestrichene Schild hängt unter dem neuen – in Elisabeth-Straße. Es gibt (der Zufall will es, daß heute die SZ darüber ausführlich berichtet) zumindest 2 Ungarn: das neue, freie, nicht-sozialistische, in dem man ZEIT oder Dunhill, FAZ oder BMW «am Kiosk» kaufen kann (und in dem ein
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