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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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gestrige so «lustige» Abend mit Ingrid Kantorowicz: Ich soll die (auch noch schwer lesbaren) Tagebücher lesen und wegen einer eventuellen Publikation raten; ich durfte damals die Beerdigungsrede und neulich die Gedenkansprache halten – aber in einem Nebensatz erfahre ich, daß Erika Hofmann als «erste Erbin» (von Ingrids nicht unbeträchtlichem Vermögen) eingesetzt ist. Ich hatte an «erben» garnicht gedacht – war dann aber vor den Kopf gestoßen: Immer ist selbstverständlich, daß ich – möglichst umsonst – irgendeine Arbeit mache; und immer ist selbstverständlich, daß daran nie gedacht wird, wovon ich eigentlich eines Tages mal leben werde. Kaum geschlafen vor Zorn.
    Holiday Inn Crowne Plaza, Heidelberg, den 24. Oktober
    Verwirrt von der Kantorowicz-Tagebuch-Lektüre im TEE: mehr der formulierte Verdruß eines Zurückgesetzten (ständiges Gejammer, in keiner Funktion zu sein, keinen Preis bekommen zu haben, nicht eingeladen zu werden) statt substantieller Kritik. Lobt «die Russen» (und Stalin) – weil die «Tägliche Rundschau» ihn druckt! Sieht keine Zusammenhänge, sondern Intrigen; gegen «uns Schriftsteller», der er doch nicht war. Sieht nicht – «endlich Fahrprüfung, brauche keinen Fahrer mehr» –, daß er doch, mit Bansin-Wochen, Villa, BMW und Ski-Ferien in Schierke – durchaus zur Nomenklatura gehörte.
    Hotel Kempinski, Berlin, den 2. November
    Absonderliche Tagung des Kuratoriums «Unteilbares Deutschland», eine Horror-Show der Banalität: Denken muß sehr weh tun; wer Klischees abfeuert à la «Der Sozialismus ist nicht tot» oder «Ich will keinen Kapitalismus» (meist Leute mit 2.-Haus in der Toscana), hat Applaus. Je stotternd-unartikulierter, desto erfolgreicher.
    Die erregende Erfahrung, nach Ostberlin spazieren zu können, ohne Ausweis, ohne Angst, ohne Kontrollen, ins selbe Land – das dann doch wiederum, und nach wie vor, ein ganz anderes Land ist: verdreckt und dunkel nach wie vor ohnehin, aber auch menschenleer, niemand «bummelt», unheitere Menschen, vermuffelte Kellner, schäbige Restaurants. Über allem der westliche «Film»: Waren, West-Side-Story in der Staatsoper und Opel-Autos. Aber die Psyche ist noch total anders. Ein historischer Vorgang ohne Beispiel: eine ganze Armee, Polizei – alles «umgekleidet», vereinnahmt, eingemeindet; aber die Gesichter unter den neuen Uniformen, die Herzen sind anders. Auch die Verhaltensweisen. Wie Menschen, die einen Krieg im Bunker überlebt haben, aber eben noch im Bunker leben.
    Erleichtert landet man «im Westen», wo heiter-bunt in der Paris-Bar an einem Nebentisch George Tabori sitzt («Ich wollte dir einen Fan-Brief schreiben zu deinem ‹Linke-Krücke …›-Artikel») und am anderen Minetti, dessen köstliche Grimm-Lesung (mit den genüßlich ausgekosteten Grausamkeiten dieser mörderischen Märchen) ich 1 Stunde vorher im Schillertheater gesehen hatte; auch das eine Reise in die Jugend: dort (neben dem BE) meine eindrücklichsten frühen Theater-Erlebnisse – oft mit Karten von Ruth’chen oder ihrem Vater: dem zu Ehren nun wiederum eine Film-Matinee ausgerechnet im Steinplatz-Kino, mit «meinem» Pisarek, der im Wolkentrinker so ausgiebig vorkommt, nun bis ins Detail («Mischehen Rosenstraße weitersagen») hier in einer Filmdokumentation, Ruthchen im Kino neben mir wie weiland …
    Und nun Minetti («Ich verehre Sie», der mich Herrn Juhnke vorstellt, der sagt: «Nicht nötig, ich bin ein FJR-Fan») und dann Hannelore Hoger am Tisch: alles lustig, lebendig, wie Sekt nach einem Gruft-Besuch. Leider spreche ich wiederum nicht die Sprache der Theaterleute, weswegen ich Taboris überströmende Herzlichkeit nicht richtig einschätzen kann – ob Theaterschmus oder ernst gemeint: «Ich will ein Stück von dir.» Hm. Kann er ja haben.
    Falls es einen krönenden Tiefpunkt gäbe, war der heute: Besuch im Hause Volk und Welt, wovon ich Jahre geträumt hatte, gezittert hatte. Es war alles tot, kalt, nichts sprach mich an als die (überraschende) Schäbigkeit des Gebäudes. Ein Herr namens Lehmann, der mich gebeten hatte – «Ich will ein Buch von Ihnen» –, ließ sich entschuldigen, Sitzung.
    November
    Dienstag Antje Ellermann mit ihrer Truppe, nette Leute, ein lustiger Abend, an dem mir nur das (zu) viele Rauchen und Trinken nicht bekam. An mir bemerke ich etwas ziemlich Unangenehmes: Ich «prunke» mit meinen Sachen, als hätten nicht andere Leute auch ein paar Bilder an der Wand und ordentliches Geschirr oder

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