Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Golfkonflikt, den die USA ganz offensichtlich bewußt eskalieren, um ihre marode Wirtschaft und ihren entwerteten Dollar auf die Beine zu bringen; so logisch ist ja unsere Welt (die nun ohne Bremse und Korrektur die mögliche, unmögliche Gegenwelt aufgesogen hat): Krieg heißt Profit.
Noch schlimmer fast die totale Auflösung des sowjetischen Weltreichs – was man einerseits «amüsiert» und entgeistert aus der Loge beobachten kann. Ob nun Giftgasraketen auf Tel Aviv oder die Tausende, bald eventuell Hunderttausende jüdischer Flüchtlinge aus der Sowjetunion: Das Lachen kann einem vergehen; wenn’s überhaupt da ist.
Geschichte läßt keine Pointe aus: Die Söhne derer, die sich falsche arische Papiere besorgten, um ihr Leben zu retten – besorgen sich jetzt falsche jüdische Papiere, um ihr Leben zu retten; diesmal in der umgekehrten Richtung – nicht AUS, sondern NACH Deutschland.
Ich versinke in einer Mischung aus Resignation, Müdigkeit, daß ich wieder mal anfange, das Datum festzulegen, an dem ich beschließe: «Nun ist’s genug – das war’s.» Eigentlich mein intensivster Wunsch für 1991: daß ich den Moment nicht verpassen möge.
1991
Hotel Römerbad, Badenweiler, den 2. Januar
Ungewöhnliche, geradezu genialische Leistung von Peter Wapnewski, der – einspringend für die «verhinderte» Frau Höhler – über Minnesang anhand eines eilends herbeigeschafften Walther-Gedichts extemporierte. Bildungssatt, brillant, sogar amüsant. Kam mir – obwohl ich ja ein wohlvorbereitetes Manuskript vortrug – wie ein Luftikus vor.
Unbekömmliche Stille. Nach Abendessen mit dem traurigeleganten Wapnewski (der viele Kilo aus Kummer über Monikas Krebs abgenommen hat) nun ein leerer Tag, bis nachmittags das «Programm» mit der Hamm-Brücher beginnt; sie kam abends noch dazu, ein alt gewordenes junges Mädchen, das «sich seine Ideale nicht nehmen lassen will». Was für Ideale? Welche hat sie verwirklicht? Wapnewski fand derartige Fragen von mir «frech».
Auf dem Flugplatz Stuttgart – Hamburg: «Bomber Command Division» steht auf dem Ärmel der Harlekin-Jacke eines jungen Mannes neben mir; in der Hand hält er ein – ungelesenes – Buch von Canetti. Derweil füllen Cashmere-Mantel-Träger wie Jeans-Bubis ihre Plastiktüten mit 4 Äpfeln, 8 Schokoriegeln, 7 Joghurts und 7 Brötchen. Schwer, Menschen nicht zu hassen.
15. Januar
Geradezu gelähmt vor Angst, schlaflos, grünbleich im Gesicht mit dicken Rändern unter den Augen: Heute läuft das Kuwait-Ultimatum ab, und es wird wohl Krieg geben. Also doch noch einmal in meinem Leben – ich dachte, ich werde es ohne einen 2. Krieg beschließen können. Wenn diesmal gewiß nicht SO integriert, wird DIESER Krieg eben doch schlimme Auswirkungen auch auf Europa haben; zu schweigen von den armen Burschen, die zu Tausenden – wenn nicht mehr – ihr Leben lassen müssen. Blut für Öl. Auch nicht ganz fair, diese Gleichung – denn sollte man dem Herrn Hussein alles durchgehen lassen? Ruthchen aus Berlin rief eben an: Freunde von ihr in Tel Aviv, er als Kind versteckt und sie als einziges Kind einer großen Familie (durch viele KZs) übrig: sind damit beschäftigt, die Fensterritzen gegen Gas zu dichten. Deutsches Gas, auch noch!
Selbst der eitle und sonst sich seiner Sache so sichere Gaus, mit dem ich gestern Mittag aß (im auf fein getrimmten CÖLLN; auch das ist dahin in seinem murkligen Charme), war bedrückt, still und ernsthaft, polemisierte nicht einmal gegen meinen Hermann-Kant-Artikel, obwohl der ihm gewiß gegen den Strich ging. Ist auch schwer, jetzt eine «linke» Position zu wahren oder auch nur zu definieren, wenn die Russen in Wilna wieder mal Menschen mit ihren Panzern zermalmen. Das System ist nicht reformierbar, nur abschaffbar, da hat Kunert recht – und wenn es stimmt, daß Gorbatschow den Befehl zur militärischen Intervention und Unterwerfung per Schießen nicht gegeben hat, dann gilt Brechts Dictum über die Angeklagten in den Moskauer Prozessen: Als er von den Unschuldsbeteuerungen hörte, sagte er: «Um so schlimmer für die Angeklagten.»
Gemartert von den eigenen Schatten: Soll ich mich von einem Großteil meiner Bibliothek trennen? Einerseits werde ich ja NIE mehr Marx oder Lukács oder Franz Mehring lesen – Meter um Meter von Dingen, die ich ja längst erarbeitet HABE. Andererseits: Gerade WEIL ich’s doch alles er- und durchgearbeitet habe, gehört es doch zu meinem Leben – ob nun Aragon oder Genet, Max Raphael oder
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