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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Formleichtigkeit. Ich trank das alles – zumal nach dem kulturlosen Costa Rica – wie ein verdorrter Schwamm, ob Peggy Guggenheims Bilder oder die Palladiokirche mit den Tintorettos (und die an der Decke der San Rocco), den irren Bellini mit den roten Engelsköpfen in der Accademia oder sogar die albern-provinzielle Gounot-Faust-Aufführung im Fenice; selbst die hilflose Cosima-Collage mit Maria Wimmer gefiel mir, nicht nur wegen des prachtvollen Ballsaales im Palazzo Zenobio: Ich war eigentlich wild entschlossen, alles in diesen 4 Tagen wunderschön zu finden, mich wohlzufühlen, mal plaudernd mit Loriot, mal diskutierend mit Joachim Kaiser.
    Kampen, den 21. Februar
    Ein sehr schöner Abend bei Grass am vergangenen Wochenende, mit viel Streit, aber ohne Zank; vor allem wegen der Müller/Wolf-Sache, wobei er, genau umgekehrt, wie es in der Öffentlichkeit geschieht, Müller schärfer kritisiert und Christa Wolf – «obwohl mir natürlich Müller ästhetisch näher ist als die stets etwas gütig-larmoyante Christa Wolf, die eine gute BDM-Führerin geworden wäre» – in Schutz nahm. Das Schöne, mehr Schwebende als Ausgesprochene des Abends war, daß aus Respekt vor der Arbeit des anderen wir auch Gegensätze austragen können, ohne uns auseinanderzudividieren; daß ich z. B. noch einmal die Erinnerung wachrufen konnte an meine seinerzeitige scharfe Ablehnung seines Plebejerstücks, weil ich damals «mir meinen Brecht nicht besudeln lassen wollte».
    «Erschütterung» – so würde die Eintragung in seinem jugendstilig-seismographischem Stil bei Thomas Mann lauten: Ich traf (in großer Eile, weil Gerds Zug 5 Minuten später eintraf) den «Raben» in Westerland beim Kuchen-Holen. Er stand plötzlich – «Guten Tag, Herr Raddatz» neben mir – also das, was ich mir seit Jahr und Tag ausspinne, daß ich ihn endlich einmal irgend alleine erwische – – – und ich war wie von einem Dolche zerschnitten, stumm, ließ mein Kuchenpaket fallen und nahm die angebotene Umarmung nicht an, während sich mir der Magen hob vor Erregung. Wie von Robert Wilson ausgeleuchtet, brannten sich mir in Sekundenschnelle Segmente ins Auge – die schönen Fingerkuppen, die edle Halsbewegung, natürlich die etwas ironisch lächelnden riesigen Augen, der inzwischen mit grauen Strähnen durchzogene Bart.
    Inzwischen: Die kurze Affäre mit dem damals langhaarigen Studenten, der in Steilshoop in einer Wohngemeinschaft lebte (wo ich also nächtens meinen Porsche parkte) und zu meinem gelinden Grummeln nachts in der U-Bahn «revolutionäre» Parolen sprühte, muß ca. 2 Jahrzehnte her sein. Und ich habe den Knaben – jetzt Mann – nie vergessen, er war vom Schulterblatt bis zum eleganten Schwanz (ja, das gibt’s: eben nicht nur groß, das auch, aber groß und sogar abstoßend sind viele – seiner war vollendet) MEIN IDEAL an Schönheit. UND intelligent, damals natürlich extrem links, wie es sich für das Alter gehört, etwas kokett und zu «keiner exklusiven Zweierbeziehung» bereit, wie das APO-Kauderwelsch das nannte.
    3. März
    Der Christa-Wolf-Heiner-Müller-Stasi-Wirrwarr geht weiter; groteske Zettel-Korrespondenz mit Zadek, der mir auf mein «Wie heißt der Gegenbegriff zu Sippenhaft?» (weil er MIR ja mein Eisler-Stück ungelesen retourniert, statt umgekehrt die Co-Intendanz mit dem Stasi-Gesprächspartner Heiner Müller aufzukündigen) nun einen Rückzettel schreibt: «Loyalität». Man ist also mit den Verrätern loyal, zu denen, die mit den Schergen auf dem Sofa saßen – und «straft» (na ja, ich kann die Strafe überleben) den, der darauf hinweist. O du mein Deutschland. Hier war immer DER der Nestbeschmutzer, der auf ein schmutziges Nest HINWIES, und nicht der, der’s beschmutzt hat.
    Bei Lichtenberg heißt das: «Wer ein dickes Fell hat, braucht kein Rückgrat.» Den Satz zitierte mir zwar Freund Kersten neulich zur Charakteristik Hochhuths – das aber ist ungerecht. Der hat ja Rückgrat, wenn auch ein sklerotisches. Er ist ein querulierender Wirrkopf, aber nicht ohne Charakter. Lebenszeichen allerdings bekommt man seit langem vom ihm nur noch, wenn er was WILL – wie gestern 4mal aus dem Intercity, weil ich ihn wegen irgendeines Schmarrens an Greiner vermitteln wollte. «Ich melde mich abends noch mal, ich möchte Sie sehen» (er hatte am frühen Abend eine Lesung) – natürlich meldete er sich keineswegs, was heißt: Er traf jemand Interessanteres.
    Kleines Lebensaperçu: verkaufte gestern jene «Was kost’ der

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