Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Schlimm wurde es, als er – spät im Leben – die DDR und den Sozialismus entdeckte; und als der Herr Botschafter immer machtloser wurde (weil Helmut Schmidt an ihm vorbeiregierte), verbösartigte er sich stündlich – seit er nun nicht mal mehr ein «Fräulein Lehmann, verbinden Sie mich auf der 2. Leitung» hat, kommt ausschließlich gallenbittere Dummheit aus seinem Mund, zwangsläufig eingeleitet mit dem Satz «Als ich noch Exzellenz war» oder «Als SPIEGEL-Chefredakteur habe ich …» – so, als würde ich jedes Gespräch mit meiner Rowohlt- oder ZEIT-Vergangenheit einleiten; derweil ich doch selig bin, daß es Vergangenheit ist.
Gaus kann reden, aber er ist kein Herr.
Hôtel Lutetia, Paris, den 19. April
Paris-Chaos, will sagen Gesellschafts-Bla-Bla: Vorgestern bei Adami – aber da noch andere Gäste da waren, kein einziger Satz sinnvollen Gesprächs. Bin ungeeignet für solche Rinnsal-Abende. Gestern mittag auf dem Lande bei reichen Freunden 5 Stunden – bei endlosem Essen – Geschwafel. Wenn man sich zu erinnern sucht, was man einen ganzen Tag lang besprach, dann ist da ein Champagner/Trüffel/Spargel/Gigot/Erdbeer-gefülltes Loch.
Hôtel Lutetia, Paris, den 20. April
In der Apollinaire-Ausstellung, die mir bemerkenswert, weil schon bei ihm das typisch französische Ästhetik-Geschwätz – «ça je trouve un beau tableau d’un peintre ravissant» – begann. Überschätzt. Anschließend im Musée Dapper mit herrlichen Léger-Skulpturen. Möchte eine haben.
Hôtel Lutetia, Paris, den 22. April
Der letzte Tag und Abend in Paris noch reichlich bizarr. War dank der neuen «Beziehung» (ein Museumsdirektor bei jenem Brunch auf dem Lande) als VIP vor dem Massenansturm ALLEINE im Pompidou, die Matisse-Ausstellung ansehen – ein Glücksgefühl, das sich von Bild zu Bild steigerte. Fühle mich als TEIL dieser Ikonographie, sie BEWEGT mich, ich nehme Anteil an ihr, mehr mit dem Solarplexus als mit dem Kopf. Die Farben, Körperfigurationen, die schwingenden Stimmungen sogar bei den natures mortes : einmalig und großartig.
9. Mai
Susan-Sontag-Party-Nachlese: Es war ein SEHR schöner, farbiger Abend in Blütenpracht, Zauberblumen in der Wohnung, herrlichem Buffet und Gästen, die sich offenbar gut mischten. Skurrile Dialoge zwischen Hochhuth und Susan Sontag – er: «Darf ich Ihnen meinen Namen buchstabieren?» Sie: «Aber ich habe einen ganzen Essay über Sie geschrieben.» Oder Grass, der meinen STASI-Artikel «furchtbar» fand und einen Vertrag mit mir schließen wollte, daß ich ihm «derlei» vorher vorlege.
Der Abend zuvor im Literatur-Haus eher seltsam. Meine Einführungsrede ziemlich kärglich (ich kann doch nicht so recht lügen, und ich finde ja, daß die negativen Kritiken recht haben), sie dafür hochprofessional und mit New Yorker Chuzpe sich selber preisend: Dies ist ein großartiger Roman, dies ist ein wundervolles Buch, mein Roman war ungeheuer erfolgreich in USA – man denke, ich z. B. würde nur halb soviel mich loben. Der Zeitungshohn nähme kein Ende. Kleines Detail: Keiner kam ohne ein kleines Geschenk, eine Blume, ein Buch, irgendeine Aufmerksamkeit. Nur Miss Sontag kam «so», nicht mal ein Buch mit Widmung für mich …
Dennoch schlimm, wie dieser Kreis allmählich altert – der alt gewordene (elegant, wohlerzogen und witzig wie immer) Wunderlich, der alte Rühmkorf, der alte Grass: kaum ein «neues Gesicht». Selbst bei meinem Besuch bei Guntram Vesper in Göttingen 2 Tage zuvor bekam ich einen Schreck: Aus dem knäbisch-schönen Mann, in den ich ja nahezu verliebt war, mit den glühenden Augen ist ein Kleinbürger geworden, der mit bebrillter Lehrerfrau «Kaffe und Kuchen» serviert, über Honorare, Vorträge und Funksendungen redet (aber nicht über Inhalte, auch nicht über Debatten, sei es STASI, sei es Botho Strauß, sei es PEN). Er ist nett und aufmerksam, holt mich ab, geht durch die – ganz schöne – Stadt mit mir spazieren und weiß, wo Heine, Bürger oder Bismarck gewohnt haben. Aber das Feuer?
Morgen nach New York.
Hotel Nestroy, New York, den 12. Mai
Nachtrag zu meiner Susan-Sontag-Party: Grass erzählte, daß Rühmkorf ihn wenige Tage zuvor besorgt gefragt habe, ob «etwa» Kunert käme, worauf er – Grass – gesagt habe: «Hoffentlich nicht – aber ich habe mehr Sorge, daß Kempowski …» Ziemlich mies: Jetzt verabschiedet man die, die konsequent Auskunft geben – und verurteilen –, was «real existierender Sozialismus» war (Kempowski hat
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