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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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ich, geklagt, das Leben habe jeden Reiz für ihn verloren – also (schauerlich, wenn das ein «Vergleich» sein sollte – so viel Anmaßung wäre selbst mir fremd) ähnlich, wie ich mich seit geraumer Zeit fühle.
    Bei Bruckner hat mich nicht nur das Adagio geradezu ergriffen (so sehr, daß ich noch 1 Stunde unter dem beinern hereinscheinenden Vollmond auf dem Wintergarten saß, meinen Bordeaux trinkend, dem Irr-Spiel des Mondes auf dem Kopf des einen Minneknabens und später im Gebüsch der mächtigen Orchideenpflanze zusehend); es hat mich auch das selber «beerben» beschäftigt: Musikologen sagen ja, er habe besonders bei diesem Adagio, das er selber als «Abschied vom Leben» auffaßte, Stellen aus dem Benedictus der F-Moll-Messe, aus dem Adagio seiner achten und aus dem Kopfsatz der siebenten Sinfonie «zitiert» – und der «Miserere»-Ruf aus dem Gloria der D-Moll-Messe stellt gar das Hauptelement dar.
    Also: Summe ziehen. Nichts anderes tue ich seit langem.
    11. März
    Vermutlich muß ich mich genieren über meine albern-unseriöse, selbstbezogene Weise, Musik zu hören. Anscheinend höre ich weniger zu als in mich hinein.
    Ein langes Hochhuth-Telefonat ist eine komische Marginalie – er bringt es wirklich fertig, in EINEM – atemlosen – Satz BEIDE Schiller (Friedrich wie Karl), Brecht, Bismarck und die Treuhand unterzubringen, über die an Raststellen Geld verteilende SPD zu höhnen und irgendein Sprichwort zu der ihren Ex-Lover Pfeiffer verpfeifenden Ex-Geliebten dieses Barschel-Intimus anzubringen («Nichts ist so todsicher, auf nichts ist so vollkommener Verlaß wie auf die Aktion des Papstes und die Rachsucht einer verlassenen Frau»).
    Da Sätze am Telefon ja keine Satzzeichen haben, weiß ich nicht, ob es nicht auch immer noch derselbe Satz war, mit dem er Leo Matthias über Vater/Sohn-Verhältnis zitierte, um des Rowohlt-Naumann Untreue gegen sich und gegen mich zu erklären (tatsächlich hat er ja diese beiden «alten» Ledig-Autoren SOFORT nach dessen Tod abserviert und feiert nun «seine» Entdeckungen Irene Dische und Tilman Spengler). DAZU nun wieder weiß Hochhuth umgehend zu erzählen, daß der Herr Reemtsma SOFORT nach dem Tode seines gehaßten Vaters dessen Villa «plattgemacht» und auf demselben Grundstück einen Bungalow errichtet hatte (schon rein architektonisch eine kriminelle Rache) oder daß bei einem Telefonat der Sohn von Christoph Hein auf Hochhuths Frage «Ach, sind Sie der Sohn am Apparat?» zurückbellte: «Unter anderem der Sohn.»
    15. März
    Ist es unanständig, wie ich Musik «benutze»? Neulich das Konzert zur Betrachtung der eigenen Psycho- und Arbeitssituation – gestern abend die sehr schöne (und schön gesungene) «Siegfried»-Aufführung im Hinblick auf mein Manuskript: machte gleich heute früh noch eine Einfügung zum Thema Frauen als Mütter, Mütter als das Verlorene (ergreifend die kurze Scene im 2. Akt: «Müssen denn Menschenmütter sterben …») und auch Mütter als das a-sexuelle Frauenideal bzw. Inzest-Tabu, vergleiche die Scene in Strindbergs «Vater», wo sie ihn endgültig besiegt und er DER MUTTER IN DER FRAU gegenüber die Waffen streckt: schauerlich.
    Ich kann nicht sagen, daß ich so einen Abend wie gestern nicht auch ARTISTISCH genossen hätte; aber RICHTIG genießen kann ich nur, wenn sich in meinem Kopf etwas in Bewegung setzt.
    Parkhotel, Stuttgart, den 28. März
    Ist meine These, Kunst habe auch etwas mit Moral zu tun, wirklich zu halten? Hat sie nicht auch etwas Kunstfremdes, gar Banausisches – und ist DESHALB so publikumswirksam? Ein billiger Applaus seitens derer, die noch immer ihren Goethe-Gipskopf auf dem Buffet haben und vom Wahren, Guten und Schönen faseln? Mir fallen doch selber genug Gegenbeispiele – von Genet über Céline zu Ezra Pound – ein, und den Gide-Satz von den schönen Gefühlen, mit denen man schlechte Kunst macht, habe ich selber zigmal zitiert. Dennoch wehrt sich in mir etwas gegen diese Kälte-These vom total bindungslosen, un-verantwortlichen Künstler (Beispiele von Brecht bis Heiner Müller zuhauf), «nur das Werk zählt». Steckt da in mir ein verborgener Religions-Rest? (Bindung heißt ja Religion.) Wäre mal ein spannendes Essay-Thema.
    Hôtel Lutetia, Paris, den 17. April
    Noch ein Nachtrag zu solchen Typen wie Gaus: Er ist recht eigentlich kein Intellektueller, sondern nur ein intelligenter Politiker, gut war er als Spiegel-Leitartikler – da verband sich sein Machtbedürfnis noch mit Schreiben.

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